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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Ort zu Ort und suchte Gelegenheitsarbeiten. Er füllte Regale, wischte Böden, schnitt Stoffe zu. Sein Lohn war bestenfalls mager. Um zu überleben, begann er, Sachen zu stibitzen und dann hemmungslos zu stehlen. Bald stahl er auch, wenn er es gar nicht nötig hatte. In einem Dorf arbeitete er in einer Mühle, füllte Mehlsäcke und brachte sie in die Stadt, um sie zu verkaufen. Der Bäcker dort hatte eine Tochter mit leuchtend grünen Augen und einer wohlproportionierten Figur, und sie war gern dabei, wenn er die Säcke mit Mehl in die Vorratskammer ihres Vaters trug. Eines Tages wagte er, ihr mit den Fingern über die Schulter zu streichen. Sie schwieg und lächelte ihn an. Das nächste Mal, mutiger und entflammt, lockte er sie in eine Ecke und grapschte ungeschickt nach ihr. Sie lachte ihn aus, und er rannte aus der Vorratskammer. Doch das Mal darauf lachte sie nicht mehr. Sie kopulierten auf den schwankenden Säcken, ihre Münder voller Mehlstaub. Als es vorbei war, stieg er von ihr, ordnete mit zitternden Händen seine Kleidung, nannte sie eine Hure und ging. Bei der nächsten Mehllieferung reagierte sie nicht auf seine Avancen, und er schlug sie ins Gesicht. Als er zur Mühle zurückkehrte, warteten ihr Vater und die Polizei auf ihn.
    Yehudah Schaalman wurde wegen Belästigung und Vergewaltigung zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Zwei Jahre waren seit seinem Traum vergangen; er war jetzt einundzwanzig Jahre alt.
    Und so begann die dritte Phase seiner Ausbildung. Im Gefängnis wurde er abgehärtet und gerissen. Er lernte, beständig auf der Hut zu sein und jeden, der ihm begegnete, als möglichen Gegner zu taxieren. Die letzten Spuren seines alten Sanftmuts schliffen sich ab, aber seinen Intellekt konnte er nicht verheimlichen. Die anderen Häftlinge hielten ihn für eine Witzfigur – ein magerer gelehrter Jude, eingesperrt mit Mördern! Sie nannten ihn »Rabbi«, anfangs spöttisch, doch schon bald baten sie ihn, Streitigkeiten zu schlichten. Er ließ sich darauf ein und fällte Urteile, die talmudische Präzision mit dem strikten Moralkodex des Gefängnisses vereinten. Die Häftlinge respektierten seine Urteilssprüche, und schließlich beugten sich ihm sogar die Wärter.
    Dennoch blieb er für sich, abseits der Hierarchie des Gefängnisses und seiner Banden. Er scharte keine Speichellecker um sich und bestach keinen Wärter. Die anderen hielten ihn für zimperlich und glaubten, er hätte Angst, sich die Hände schmutzig zu machen, er aber hatte begriffen, wer tatsächlich die Macht hatte, nämlich er selbst. Er war zur höchsten Instanz der Gerechtigkeit geworden, unvoreingenommener als die Gerichte. Die anderen Häftlinge hassten ihn dafür, ließen ihn jedoch in Ruhe. Auf diese Weise überlebte Schaalman fünfzehn lange Jahre, unversehrt und unangetastet, und nährte seine Verbitterung, während es um ihn herum im Gefängnis brodelte.
    Mit fünfunddreißig wurde er schließlich entlassen und musste feststellen, dass er hinter Gittern sicherer gewesen wäre. Das Land stand in Flammen. Die Polen im Herzogtum Preußen hatten es satt, sich von den Machthabern ihr Land und ihre Kultur rauben zu lassen, erhoben sich gegen ihre Besatzer, und wurden in militärische Kämpfe verwickelt, die zu gewinnen sie nicht hoffen konnten. Preußische Soldaten ritten von Dorf zu Dorf, brachen den letzten Widerstand und plünderten Synagogen und katholische Kirchen. Es war unmöglich, auf den Straßen nicht bemerkt zu werden. Eine Gruppe preußischer Soldaten stieß auf ihn und schlug ihn aus Spaß zusammen; noch bevor sich seine Wunden geschlossen hatten, verprügelte ihn eine Bande polnischer Rekruten. Er suchte nach Arbeit in den Dörfern, doch in seinen harten Zügen und seinem berechnenden Blick hatte das Gefängnis ein unsichtbares Mal hinterlassen, und niemand nahm ihn. Er stahl Essbares aus Lagerhäusern und den Futtertrögen in Ställen, schlief auf Feldern und bemühte sich, nicht gesehen zu werden.
    Und so erwachte Schaalman, halb verhungert und fast wahnsinnig vor Todesangst, eines Nachts auf seinem schmutzigen Lager am Feldrand aus einem grauen traumlosen Schlaf und sah am Horizont ein merkwürdiges Licht, ein pulsierendes orangerotes Glühen, das größer wurde. Noch halb im Schlaf stand Schaalman auf, ließ seine wenigen Habseligkeiten auf dem Boden liegen und ging darauf zu.
    Mitten durch das Feld war eine Furche gepflügt, ein Pfad, der direkt auf das Licht zu führte. Er stolperte über Erdklumpen,

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