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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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namens Fadwa al-Hadid eine kleine Ziegenherde in das Tal nahe dem Lager ihrer Familie trieb. Sie sang leise vor sich hin und scheuchte streunende Ziegen mit einem dünnen Zweig zurück in die Herde. Sie erklomm einen kleinen Grat – als sie plötzlich unten im Tal einen riesigen Palast aus Glas glitzern sah.
    Sie starrte ihn einen Moment lang mit weit aufgerissenen Augen an und entschied dann, dass er wirklich da war. In höchster Aufregung trieb sie ihre Ziegen zurück ins Lager, rannte in das Zelt ihres Vaters und rief, dass im Tal plötzlich ein glänzender Palast aufgetaucht sei.
    »Das muss eine Fata Morgana gewesen sein«, sagte ihr Vater, Jalal ibn Karim al-Hadid, der von seinem Clan Abu Yusuf genannt wurde. Ihre Mutter Fatim schnaubte nur kopfschüttelnd und stillte weiter ihren Jüngsten. Doch das Mädchen, das fünfzehn Jahre alt, eigensinnig und dickköpfig war, zerrte seinen Vater aus dem Zelt und flehte ihn an, mit ihm zu kommen und den Palast anzuschauen.
    »Tochter, du kannst einfach nicht gesehen haben, was du glaubst, dass du gesehen hast«, sagte Abu Yusuf.
    »Hältst du mich für ein Kind? Ich erkenne eine Fata Morgana, wenn ich eine sehe«, beharrte sie. »Er stand genauso wirklich vor mir wie du.«
    Abu Yusuf seufzte. Er kannte den Blick in den Augen seiner Tochter, das empörte Funkeln, das jedem Versuch, sie zur Vernunft zu bringen, widerstand. Schlimmer noch, er wusste, dass er daran schuld war. Das Glück war seinem Clan in letzter Zeit gewogen gewesen, und das hatte ihn zur Nachsicht verleitet. Der Winter war mild gewesen, und der Regen war zur richtigen Zeit gekommen. Die Frauen seiner Brüder hatten beide gesunde Söhne zur Welt gebracht. Als Abu Yusuf zur Jahreswende in der Wärme des glühenden Feuers gesessen und die Mitglieder seines Clans betrachtet hatte, wie sie um ihn herum aßen, spielten und plauderten, hatte er sich gesagt, dass Fadwas Verheiratung vielleicht noch warten könnte. Sollte das Mädchen noch ein Jahr bei seiner Familie bleiben, bevor er es wegschickte. Aber jetzt fragte sich Abu Yusuf, ob seine Frau nicht recht hatte: Möglicherweise hatte er seine einzige Tochter zu sehr verwöhnt.
    »Ich habe keine Zeit, mich wegen dieses Unsinns zu streiten«, sagte er streng zu ihr. »Deine Onkel und ich bringen die Schafe zum Weiden. Wenn es dort einen Zauberpalast gibt, werden wir ihn sehen. Jetzt geh und hilf deiner Mutter.«
    »Aber –«
    »Mädchen, tu, was ich dir sage!«
    Er wurde nur selten laut. Sie wich gekränkt zurück. Dann drehte sie sich um und lief zum Zelt der Frauen.
    Fatim, die alles gehört hatte, schnalzte mit der Zunge. Fadwa schniefte und wich ihrem Blick aus. Sie setzte sich vor den niedrigen Tisch, auf dem der Teig ging, und begann ihn in Stücke zu reißen und flach zu klopfen, mit mehr Kraft, als nötig gewesen wäre. Ihre Mutter seufzte über den Lärm, sagte jedoch nichts. Es war besser, dass sich das Mädchen müde arbeitete, statt den ganzen Morgen herumzusitzen und die anderen Frauen mit seinem schwelenden Ärger zu zermürben.
    Die Frauen kochten und melkten und flickten, während die Sonne auf ihrer gewohnten Bahn über den Himmel zog. Fadwa badete ihre kleinen Cousins, ertrug ihr Geheul und Gezanke. Die Sonne ging unter, und noch immer waren die Männer nicht zurück. Fatims Miene verdüsterte sich. Durch das Tal zogen nur selten Banditen, dennoch waren drei Männer und eine große Schafherde leichte Beute. »Jetzt reicht’s«, fuhr sie Fadwa an, die sich bemühte, den strampelnden Jungen anzuziehen. »Lass mich das machen, du kannst es ja nicht. Geh und näh an deinem Hochzeitskleid.«
    Fadwa gehorchte, obwohl sie alles andere lieber getan hätte. Sie war nicht gut darin, feine Stiche zu sticken, sie hatte keine Geduld dafür; sie konnte gut weben und ein Zelt so schnell flicken wie Fatim, aber Stickerei? Kleine, so und nicht anders angeordnete Stiche? Es war langweilig, und sie begann bald zu schielen. Mehr als einmal hatte Fatim die Fortschritte ihrer Tochter begutachtet und sie angewiesen, alles wieder aufzutrennen. In einem so schlampigen Kleid, erklärte sie, würde ihre Tochter nicht heiraten.
    Wenn es nach Fadwa ginge, würde sie das Kleid ins Feuer werfen und laut singen, während es verbrannte. Mit jedem Tag wurde das Leben im Lager ihres Clans erdrückender, aber das war nichts verglichen mit der Vorstellung, heiraten zu müssen. Sie wusste, dass sie ein verwöhntes Kind war; sie wusste, dass ihr Vater sie liebte und nicht so

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