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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Arzt keine körperlichen Leiden feststellen konnte. Die Brüder nahmen ihn mit nach Little Syria, und bevor der desorientierte Saleh protestieren konnte, hatten sie eine Unterkunft für ihn gefunden. Sie kostete nur ein paar Pennys pro Woche: ein winziges Zimmer in einem feuchten Keller, der nach fauligem Gemüse roch. Das einzige Licht fiel durch ein kleines Gitterfenster hoch oben in der Mauer. Die jungen Männer führten ihn durch das Viertel und zeigten ihm, wo er Milch, Eis, Salz und Zucker kaufen konnte. Dann deckten sie sich mit Säcken voller Kurzwaren zum Hausieren ein, wünschten ihm viel Glück und brachen auf in eine Stadt namens Grand Rapids. An diesem Abend fand Saleh zwei Dollarmünzen in seiner Tasche, die zuvor nicht da gewesen waren. Nach Wochen der Seekrankheit und Erschöpfung hatte er nicht einmal mehr die Kraft, zornig zu werden.
    Und so wurde er wieder zu Eiscreme-Saleh. Die Straßen New Yorks waren verkehrsreicher und gefährlicher als die von Homs, aber seine Runde war kleiner und einfacher, eine schmale Schleife: auf der Washington Street nach Süden bis zur Cedar Street, dann die Greenwich Street nach Norden bis zur Park Avenue und zurück zur Washington Street. Die Kinder hier lernten genauso schnell wie ihre Cousins und Cousinen in Homs, die Münze in seine ausgestreckte Hand zu legen und ihm niemals in die Augen zu schauen.
    Eines sengend heißen Nachmittags löffelte er Eis in die kleinen Blechschälchen, als ihn eine weiche Hand am Ellbogen berührte. Erschrocken wandte er sich um und sah den Wangenknochen einer Frau. Sofort blickte er weg. »Sir?«, sagte eine Stimme. »Hier ist etwas Wasser für Sie, wenn Sie möchten. Es ist so heiß heute.«
    Einen Moment lang wollte er ablehnen. Aber es war wirklich unglaublich heiß, feucht und schwül, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Seine Kehle war ausgetrocknet, sein Kopf schmerzte. Er hatte nicht die Kraft zu verzichten. »Danke«, sagte er schließlich und streckte eine Hand in Richtung der Stimme.
    Sie musste verwirrt dreingeblickt haben, denn er hörte eine Kinderstimme sagen: »Sie müssen ihm das Glas geben, er schaut nie jemandem ins Gesicht.«
    »Oh, ach so«, sagte die Frau. Vorsichtig reichte sie ihm das Glas mit Wasser. Es war kalt und sauber, und er trank es in einem Zug aus. »Danke«, sagte er noch einmal und hielt ihr das Glas hin.
    »Aber gern. Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
    »Mahmoud Saleh. Aus Homs.«
    »Mahmoud, ich bin Maryam Faddoul. Hinter uns ist mein Kaffeehaus, mein Mann und ich wohnen im ersten Stock. Wenn Sie etwas brauchen – mehr Wasser oder einen Stuhl im Schatten –, kommen Sie bitte herein.«
    »Danke, Madam«, sagte er.
    »Bitte nennen Sie mich Maryam«, bat sie ihn und klang, als würde sie freundlich lächeln. »Alle nennen mich so.«
    Wenn ihn sein langsamer Trott an ihrem Kaffeehaus vorbeiführte, kam Maryam von nun an oft auf die Straße und sprach mit ihm und den Kindern. Die Kinder schienen Maryam zu mögen: Sie nahm sie ernst, wusste ihre Namen und Einzelheiten aus ihrem Leben. Wenn Maryam neben ihm stand, wurde er von Kunden überrannt, nicht nur von Kindern, sondern auch von ihren Müttern und sogar von Ladenbesitzern und Fabrikarbeitern, die von ihrer Schicht nach Hause gingen. Seine Runde war viel kleiner als sie es in Homs gewesen war, aber er verkaufte genauso viel Eis, wenn nicht mehr. Auf gewisse Weise war es ärgerlich; er war nicht nach Amerika gekommen, um Erfolg zu haben, aber wie es schien, wollte Amerika ihn nicht scheitern lassen.
    Jetzt ging er mit der Eismaschine im Schlepptau an Arbeelys Werkstatt vorbei und dachte an das, was Maryam ihm über den Beduinen-Lehrling erzählt hatte. Er war noch nie in der Werkstatt gewesen, hatte immer nur durch die offene Tür die heiße Luft gespürt. Einen Augenblick überlegte er hineinzugehen. Doch dann ärgerte er sich über die Erinnerungen, und er beschloss, keinen Gedanken mehr an den Beduinen zu verschwenden; er blickte auf die schwarzen Schemen seiner Füße, die sich unaufhaltsam seinem Kellerzimmer näherten.

    In der syrischen Wüste hörte es nach drei Tagen auf zu regnen. Das Wasser versickerte in der Erde, und bald bedeckten grüne Triebe das flache Land und kletterten die Hügel hinauf. Für die Beduinenstämme waren diese wenigen Tage von großer Bedeutung. Jetzt konnten ihre Tiere weiden und sich vollfressen, bevor es wieder heiß wurde und das Grün verdorrte.
    Und so geschah es, dass eines Morgens ein Beduinenmädchen

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