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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Tag, als er die Schafe den Grat entlangtrieb, hatte ihn für einen ganz kurzen Augenblick die glänzende Vision eines Palastes unten im Tal geblendet. Ein Blinzeln – und er war verschwunden. Er hatte lange Zeit in das leere Tal gestarrt und sich eingeredet, dass das Sonnenlicht an dieser Stelle in einem bestimmten Winkel auf die Augen getroffen war und so die Illusion erschaffen hatte. Dennoch war er erschüttert. Wie seine Tochter gesagt hatte, war es keine verschwommene flirrende Fata Morgana gewesen – er hatte unglaubliche Details gesehen, Türme und Zinnen und glitzernde Höfe. Und neben dem offenen Tor die Gestalt eines Mannes, der zu ihm heraufschaute.

Kapitel  6
    D er September war fast vorbei, doch die Sommerhitze dauerte erbarmungslos an. Mittags leerten sich die Straßen, und die Fußgänger sammelten sich unter den Markisen. Die Ziegel und Steine der Lower East Side saugten die Hitze auf und setzten sie bei Sonnenuntergang wieder frei. Die wackligen Feuerleitern auf der Rückseite der Häuser wurden zu vertikalen Freiluftschlafzimmern, als die Bewohner ihre Matratzen auf die Absätze zerrten und auf den Hausdächern ihr Lager aufschlugen. Die Luft war eine übelriechende Brühe, und das Atmen fiel schwer.
    An den Hohen Feiertagen wurde es unerträglich. Die Synagogen blieben halb leer, da viele es vorzogen, zu Hause zu beten, wo sie zumindest ein Fenster öffnen konnten. Rotgesichtige Kantoren sangen vor ein paar unglücklichen Gläubigen. An Jom Kippur, dem wichtigsten Sabbat des Jahres, wurden nicht wenige Synagogengänger ohnmächtig, weil ihnen das Fasten die letzten Kräfte geraubt hatte.
    Zum ersten Mal seitdem er ein Bar-Mizwa war, fastete Rabbi Meyer an diesem Jom Kippur nicht. Obwohl die Alten vom Fasten ausgenommen sind, hatte es der Rabbi bislang nicht aufgeben wollen. Das Fasten war der Höhepunkt der spirituellen Arbeit der Hohen Feiertage, eine Säuberung und Reinigung der Seele. Dieses Jahr musste er sich allerdings eingestehen, dass sein Körper zu hinfällig geworden war. Trotzdem zu fasten, wäre Eitelkeit und damit eine Sünde und eine Weigerung, das Altern zu akzeptieren. Hatte er seinen Gemeindemitgliedern früher nicht davon abgeraten? Dennoch schmeckte ihm das Mittagessen an Jom Kippur nicht, und er hatte das Gefühl, sich irgendwie schuldig gemacht zu haben.
    Aber er tröstete sich damit, dass es viel zu essen gab – denn der Golem hatte zum Zeitvertreib angefangen zu backen.
    Es war die Idee des Rabbis gewesen, und er ärgerte sich, dass er nicht früher daran gedacht hatte. Der Einfall kam ihm, als er eines Morgens in die Bäckerei ging und einen jungen Mann bei der Arbeit sah, er rollte und flocht Teig für die Sabbat-Challas. Ein Zopf nach dem anderen nahm unter seinen Händen Gestalt an. Seine flinken mechanischen Bewegungen verrieten, dass er lange Jahre an diesem Ort und mit dieser Aufgabe verbracht hatte; und einen Augenblick lang wirkte er auf den Rabbi fast wie ein Golem.
    Am Nachmittag kam er mit einem dicken englischen Buch nach Hause und gab es dem Golem.
    »Das Kochbuch der Bostoner Kochschule«
, las sie perplex. Ängstlich schlug sie das Buch auf – doch zu ihrer Überraschung war es einfach, sachlich und klar geschrieben. Es enthielt nichts, was sie verwirrte, nur geduldige und logische Anweisungen. Sie wiederholte die Namen der Rezepte für den irritierten Rabbi, zuerst auf Englisch, dann auf Jiddisch, und war erstaunt, als er erklärte, dass ihm viele Rezepte völlig unbekannt waren. Er hatte nie Finnan Haddie gegessen – offenbar ein Fisch – oder Gnocchi à la romaine oder Kartoffeln Delmonico oder irgendeines der zahllosen kompliziert klingenden Eiergerichte. Sie beschloss, ein Essen für ihn zu kochen. Vielleicht einen gebratenen Truthahn mit Süßkartoffeln und Bohnen-Mais-Eintopf? Oder Hummersuppe gefolgt von Porterhouse Steaks und Erdbeerkuchen zum Nachtisch? Der Rabbi stellte nicht ohne Bedauern klar, dass diese Gerichte für ihren Haushalt zu extravagant waren – und außerdem war Hummer
trejf.
Vielleicht könnte sie klein anfangen und sich nach oben arbeiten. Nichts mochte er mehr, so sagte er, als frisch gebackenen Kuchen zum Kaffee. Wäre das für den Anfang in Ordnung?
    Und so verließ der Golem allein die Wohnung und ging in das Lebensmittelgeschäft an der Ecke. Mit dem Geld des Rabbis kaufte sie Eier, Zucker, Salz, Mehl, ein paar Gewürze und eine kleine Schachtel geschälter Walnüsse. Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft,

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