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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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grausam wäre, einen Mann auszuwählen, der brutal oder dumm wäre, nur um eine vorteilhafte Allianz zu schmieden. Aber jeder konnte sich täuschen, sogar ihr Vater. Und alle verlassen zu müssen, die sie bislang in ihrem Leben gekannt hatte, und bei einem fremden Mann zu leben, sich zu ihm ins Bett zu legen und sich von seiner Familie herumkommandieren zu lassen – war das nicht fast wie sterben? Auf jeden Fall wäre sie nicht mehr Fadwa al-Hadid. Sie wäre jemand anders, eine völlig andere Frau. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Sie würde heiraten, und zwar bald. Das war so sicher wie der Sonnenaufgang.
    Sie blickte auf, als ihre Mutter freudig aufschrie. Die Männer kamen ins Lager und trieben die Schafe vor sich her. Die Schafe rempelten einander, erschöpft von dem langen Weg und mit vollen Bäuchen. »Es war ein guter Tag«, rief einer von Fadwas Onkeln. »Bessere Weiden hätten wir nicht finden können.«
    Bald setzten sich die Männer zum Abendessen, aßen Brot und Käse. Die Frauen bedienten sie und zogen sich anschließend in ihr Zelt zurück, um zu essen, was übrig geblieben war. Da ihr Mann sicher zu Hause war, besserte sich Fatims Stimmung; sie lachte mit ihren Schwägerinnen und turtelte mit dem Baby an ihrer Brust. Fadwa aß schweigend und schaute immer wieder zum Zelt der Männer, auf den starken Rücken ihres Vaters.
    Später am Abend nahm Abu Yusuf seine Tochter beiseite. »Wir waren an der Stelle, von der du gesprochen hast«, sagte er. »Ich habe wirklich genau geschaut, aber nichts gesehen.«
    Fadwa nickte niedergeschlagen, aber nicht überrascht. Mittlerweile hatten sich auch bei ihr Zweifel eingeschlichen.
    Abu Yusuf lächelte ihr gesenktes Gesicht an. »Habe ich dir erzählt, dass ich einmal eine ganze Karawane gesehen habe, die nicht da war? Ich war ungefähr so alt wie du. Eines Morgens war ich mit den Schafen unterwegs und habe eine riesengroße Karawane gesehen, die über einen Pass in den Bergen kam. Es waren mindestens hundert Männer, die sich näherten. Ich konnte die Augen der Männer sehen, sogar das Prusten der Kamele. Ich bin nach Hause gerannt, um die anderen zu holen. Und habe die Schafe zurückgelassen.«
    Fadwa riss die Augen auf. So eine Nachlässigkeit hätte sie ihm nicht zugetraut, nicht einmal als Junge.
    »Als ich mit meinem Vater an die Stelle zurückkam, war die Karawane spurlos verschwunden. Genau wie die meisten Schafe. Es dauerte den ganzen Tag, bis wir sie wieder eingefangen hatten, und manche lahmten, weil sie über Felsen gestolpert waren.«
    »Was hat dein Vater gesagt?« Sie hatte ein bisschen Angst, die Frage zu stellen. Karim ibn Murhaf al-Hadid war viele Jahre vor Fadwas Geburt gestorben, aber die Geschichten über seinen strengen Charakter waren legendär in ihrem Stamm.
    »Zuerst hat er nichts gesagt, sondern mich nur geschlagen. Später hat er mir dann eine Geschichte erzählt. Wie er als kleiner Junge im Zelt der Frauen spielte, hinausschaute und eine fremde Frau sah, die ganz in Blau gekleidet war. Sie stand gleich neben dem Lager, lächelte ihn an und streckte die Hände nach ihm aus. Er hörte sie rufen, ihn bitten, zu ihr zu kommen und mit ihr zu spielen. Das Mädchen, das auf ihn hätte aufpassen sollen, war eingeschlafen. Er folgte der Frau in die Wüste – allein, mitten an einem Sommernachmittag.«
    Fadwa staunte. »Und er hat überlebt!«
    »Es war knapp. Sie haben ihn erst nach Stunden gefunden, und da kochte sein Blut schon. Es hat lange gedauert, bis er wieder gesund war. Aber er hätte beim Namen seines Vaters geschworen, dass die Frau wirklich da gewesen war. Und jetzt«, er lächelte, »hast du eine Geschichte, die du
deinen
Kindern erzählen kannst, wenn sie angelaufen kommen und schwören, dass sie einen See aus klarem Wasser mitten in einem trockenen Tal oder eine über den Himmel fliegende Horde Dschinn gesehen haben. Du kannst ihnen von dem wunderschönen glitzernden Palast erzählen, den du gesehen hast, und dass dein grausamer und schrecklicher Vater dir nicht glauben wollte.«
    Sie lächelte. »Du weißt, dass ich das nicht sagen werde.«
    »Vielleicht nicht, vielleicht schon. Aber jetzt«, er küsste sie auf die Stirn, »beende deine Hausarbeiten, Kind.«
    Er sah ihr nach, wie sie ins Zelt der Frauen zurückging. Sein Lächeln wurde kleiner und erlosch. Er war nicht ehrlich zu seiner Tochter gewesen. Die Geschichten von der Karawane und dem Missgeschick seines Vaters entsprachen der Wahrheit – doch früher an diesem

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