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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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nicht mehr zu erhoffen gewagt hatte. Salehs Tochter, so sagte der Mann, beeindrucke ihn als seltenes Beispiel einer respektvollen Tochter, und genau so eine Frau wünsche er sich als Ehefrau und Mutter seiner Kinder. Niemand schien viel von ihm zu halten – er war vor allem dafür bekannt, dass er ungefragt seine Meinung über die menschlichen Schwächen seiner Nachbarn kundtat –, doch er verdiente einen guten Lebensunterhalt und schien nicht herzlos zu sein.
    »Wenn Gott mir einen Wunsch erfüllen würde«, sagte Saleh zu seiner Tochter, »würde ich mir wünschen, dass Er alle Prinzen dieser Welt vor dir aufreiht und sagt: ›Wähle, wen immer du möchtest, denn keiner ist zu reich oder zu gut.‹« Während er sprach, hielt er die Augen geschlossen; seit acht Jahren hatte er seine Tochter nicht mehr angesehen.
    Sie küsste ihn auf die Stirn und sagte: »Dann danke ich Gott, dass er dir den Wunsch nicht erfüllen kann, denn soweit ich weiß, sind Prinzen die schlechtesten Ehemänner.«
    Im Sommer wurde der Ehevertrag unterschrieben. Ein knappes Jahr später war sie tot: Während der Geburt war eine unstillbare Blutung aufgetreten, das Baby wurde im Geburtskanal stranguliert. Die Frau, die bei der Geburt dabei war, konnte weder Mutter noch Kind retten.
    Ihre Tanten bereiteten ihren Leichnam für die Beerdigung vor, so wie sie auch ihre Mutter vorbereitet hatten, sie wuschen und parfümierten sie und wickelten sie in fünf weiße Tücher. Bei der Beerdigung stand Saleh im ausgehobenen Grab und ließ sich seine Tochter in die Arme legen. Die Schwangerschaft hatte ihren Körper schwerer und weicher gemacht. Ihr Kopf lag an seiner Schulter, und er blickte hinunter auf ihre bedeckten Gesichtszüge, den Rücken ihrer Nase, die Augenhöhlen. Er legte sie auf die rechte Seite, das Gesicht in Richtung Kaaba. Der Duft der Leichentücher vermischte sich mit dem sauberen, scharfen Geruch des feuchten Lehms. Er wusste, dass die anderen auf ihn warteten, machte jedoch keine Anstalten, aus dem Grab zu steigen. Hier war es still und kühl. Er streckte die Hand und fuhr mit den Fingern über die Erde, spürte mit seinen gedämpften Sinnen die Furchen, die die Spaten der Totengräber hinterlassen hatten, der Lehm glatt und körnig zugleich zwischen seinen Fingern. Er setzte sich neben die Leiche seiner Tochter und hätte sich neben ihr ausgestreckt, wenn ihn nicht in diesem Augenblick jemand unter den Achseln gepackt und herausgezogen hätte. Sein Schwiegersohn und der Imam hatten beschlossen, das Schauspiel zu beenden, bevor es noch schlimmer wurde.
    In diesem Sommer hatte er weniger Kunden, obwohl es so heiß war wie immer. Er hörte wie Eltern, wenn sie an ihm vorbeigingen, ihren Kindern zuflüsterten:
Nein, mein Schatz, nicht bei Herrn Saleh.
Er verstand: Er war jetzt nicht mehr nur eine tragische Gestalt, sondern auch eine verfluchte.
    Er konnte nicht erklären, wie er auf die Idee kam, sein letztes Geld zu nehmen und nach Amerika zu gehen, jedenfalls blieb es nicht lange bei der bloßen Idee. Die Familie seiner Frau glaubte, nun sei er endgültig verrückt geworden. Wie sollte er allein in Amerika überleben, wenn er es kaum in Homs schaffte? Sein Schwiegersohn wies ihn darauf hin, dass es in Amerika keine Moscheen gebe und er nicht richtig würde beten können. Saleh erwiderte, dass er nicht beten müsse, da er und Gott getrennte Wege gingen.
    Niemand verstand seine Beweggründe. Amerika sollte kein Neuanfang sein. Saleh wollte nicht überleben. Er würde mit seiner Eismaschine den Ozean überqueren und in Amerika sterben aufgrund von Krankheit oder Hunger oder reinem Zufall. Er würde sein Leben beenden weit weg von ihrem Mitleid und ihrer Barmherzigkeit und ihrem Glotzen, in Gesellschaft von Fremden, die ihn nur als das kannten, was er war, und nicht als den, der er gewesen war.
    Und so ging er in Beirut an Bord eines Dampfers. Er verbrachte die schreckliche Überfahrt in der stickigen Luft des Zwischendecks, horchte auf das Husten der Passagiere und fragte sich, was er sich zuziehen würde. Typhus? Cholera? Doch er gelangte unversehrt nach Amerika, nur um die demütigende Befragung und Untersuchung auf Ellis Island über sich ergehen zu lassen. Er bezahlte zwei junge Brüder mit seinem letzten Geld, damit sie ihn als ihren Onkel ausgaben, und sie hielten Wort und versprachen dem Einwanderungsbeamten, dass sie Saleh unterstützen und vor Armut bewahren würden. Die medizinische Untersuchung überstand er nur, weil der

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