Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
abgeblieben war.
Aber die junge Frau hatte ihn fasziniert. Zudem meldete sich die dunkle ziellose Sehnsucht wieder, die er schon auf der Hochzeitsfeier empfunden hatte, und er handelte normalerweise nicht gegen seine Impulse. Arbeely, entschied er, konnte noch ein bisschen länger warten.
Außer ihrem Namen hatte er keine Anhaltspunkte, doch letztlich war es überhaupt nicht schwierig herauszufinden, wo Sophia Winston wohnte. Er ging einfach Richtung Osten bis zum Ende des Parks entlang der Strecke, die die Kutsche gefahren war; und dann, als er das Tor hinter sich gelassen hatte und wieder auf den Straßen der Stadt stand, fragte er den erstbesten Mann, der an ihm vorbeikam.
»Winston? Sie meinen Francis Winston? Sie machen Witze.« Der Mann, den er angehalten hatte, hatte Hängebacken, war stämmig und angezogen wie ein Arbeiter. »Er wohnt in dem großen neuen Haus Ecke Sixtysecond Street. Ein Haufen weißer Steine so groß wie das Haus der Astors. Kann man nicht übersehen.« Er deutete mit einem fleischigen Finger nach Norden.
»Danke.« Der Dschinn marschierte los.
»He!«, schrie ihm der Mann hinterher. »Was wollen Sie eigentlich von den Winstons?«
»Ich will ihre Tochter verführen«, rief der Dschinn, und das laute Lachen des Mannes folgte ihm die Avenue entlang.
Er fand das Anwesen der Winstons mühelos, genau wie der Mann gesagt hatte. Es war ein riesiger zweistöckiger Palast aus Kalkstein mit hohen dunklen Giebeln, die spitz zuliefen. Es war von der Straße zurückgesetzt, hinter einer ordentlich geschnittenen Rasenfläche und einem mit Spitzen bewehrten Eisenzaun, der den Garten vom Bürgersteig trennte. Im Gegensatz zu seinen älteren Nachbarn war es noch nicht mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt und wirkte, so neu wie es war, auf stille Weise selbstzufrieden.
An der Vorderseite des Hauses befand sich ein großer Säulengang, der von Lampen erleuchtet wurde. Der Dschinn ging weiter und folgte dem Eisenzaun um die Ecke. Hinter den hohen Fenstern brannte Licht. Er sah, wie sich Menschen hinter den Vorhängen bewegten. Auf der Rückseite des Hauses reichte eine dichte Hecke bis zum Gehweg, und aus dem Eisenzaun wurde eine imposante Ziegelmauer, die den Garten vor neugierigen Blicken abschirmte.
Der Dschinn betrachtete den Zaun. Die Stäbe waren stark, aber nicht allzu dick. Er schätzte den Abstand zwischen den Stäben. Zwei hielt er für genug. Er umfasste mit den Händen zwei benachbarte Stäbe und konzentrierte sich.
Sophia saß im Morgenrock in ihrem Schlafzimmer, ihr Haar feucht vom Baden. Sie war untröstlich. Die Gäste würden in einer knappen Stunde eintreffen. Wie ihre Tante vorhergesagt hatte, befand sich Sophias Mutter am Rande eines Nervenzusammenbruchs, flatterte durchs Haus wie ein entfleuchter Wellensittich und erteilte jedem Dienstboten, der sich in Hörweite befand, einen Befehl. Ihr Vater hatte sich in die Bibliothek zurückgezogen, seine übliche Zufluchtsstätte. Sophia wünschte, sie könnte sich zu ihm setzen oder dabei helfen, ihren Bruder George ins Bett zu bringen. Aber Georges Kindermädchen verbat sich Sophias »Einmischung« und behauptete, sie würde ihre Autorität untergraben. Und wenn Sophias Mutter sie dabei erwischte, wie sie in der Bibliothek verträumt Reisejournale las, gäbe es Streit.
Sophia war achtzehn Jahre alt und einsam. Als Tochter einer der reichsten und berühmtesten Familien in New York – ja, im ganzen Land – hatte man ihr sowohl subtil als auch offen unmissverständlich klargemacht, dass von ihr nicht viel mehr erwartet wurde, als zu existieren, abzuwarten und ihre Manieren zu vervollkommnen, bis sich eine gute Partie fand und sie die nächste Generation der Familie in die Welt setzen konnte. Ihre Zukunft entfaltete sich vor ihr wie ein schrecklicher Wandbehang, das Muster festgelegt und unveränderlich. Erst gäbe es eine Hochzeit und ein Haus in der Nähe mit einem Trakt für Kinder, die selbstverständlich zwingend vorgeschrieben waren. Sie würde nicht enden wollende Sommer auf dem Land verbringen, von einem Anwesen zum nächsten reisen, endlos Tennis spielen und unter der Anstrengung leiden, ständig Gast im Haus eines anderen zu sein. Dann kämen die mittleren Jahre, und sie müsste sich einem wohltätigen Zweck widmen, der Abstinenzbewegung oder Armutsbekämpfung oder Bildung – es war nicht wichtig, solange es tugendhaft und unumstritten war und Gelegenheiten bot, mit drögen, streng gekleideten Rednerinnen Mittag zu
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