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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Jungen rollte vor dem Dschinn über den Weg. Überrascht hob er ihn auf und gab ihn dem Jungen zurück, der hinter seinen Freunden herlief. Der Dschinn ging weiter und fragte sich, wozu der Reifen wohl dienen mochte.
    Schließlich fiel die Promenade zu einem Tunnel ab, der unter einer Droschkenstraße hindurchführte. Auf der anderen Seite des Tunnels befand sich ein breiter Platz aus roten Ziegeln, der sich bis zum geschwungenen Ufer eines Sees erstreckte. In der Mitte des Platzes erhob sich eine riesige Frau mit Flügeln, die über einem schäumenden Wasserfall schwebte. Nein, es war keine Frau – sondern die Statue einer Frau, die auf einem Sockel stand. Das Wasser floss in eine flache Schale zu ihren Füßen und von dort in ein Becken, das fast so breit war wie der Platz.
    Er ging zum Rand des Beckens und betrachtete fasziniert den Springbrunnen. Nie zuvor hatte er auf diese Weise fließendes Wasser gesehen, breite Flächen und Bäche, die ständig die Form änderten. Es war nicht so furchterregend wie die unermessliche Weite des New Yorker Hafens, dennoch empfand er eine etwas unangenehme Aufregung. Fein zerstäubtes Wasser sprühte ihm ins Gesicht, und es fühlte sich an wie winzige Nadelstiche.
    Die Frau schwebte heiter über ihm. In einer Hand hielt sie einen kleinen Blumenstrauß, die andere hatte sie ausgestreckt. Die Flügel auf ihrem Rücken waren entfaltet, breit und geschwungen. Eine menschliche Frau mit der nichtmenschlichen Fähigkeit zu fliegen – wenn er Arbeely glauben konnte, müssten die Menschen so eine Frau dann nicht fürchten? Und doch sah man ihr an, dass der Künstler sie voller Respekt und nicht voller Angst gestaltet hatte.
    Neben ihm bewegte sich jemand: eine junge Frau, die ihn beobachtete. Er blickte zu ihr, und sie wandte rasch den Kopf ab und tat so, als würde auch sie den Brunnen betrachten. Sie trug ein in der Taille eng geschnittenes dunkelblaues Kleid und einen großen Hut mit eingerollter Krempe und Pfauenfeder. Ihr gelocktes braunes Haar war im Nacken zusammengefasst. Der Dschinn hatte mittlerweile genug menschliche Kleidung gesehen, um zu wissen, dass alles an ihr Reichtum ausstrahlte. Merkwürdigerweise schien sie allein zu sein.
    Als könnte sie nicht anders, schaute sie wieder zu ihm, und ihre Blicke trafen sich. Sofort sah sie wieder weg. Aber dann lächelte sie, als wollte sie ihre Niederlage eingestehen, und wandte ihm das Gesicht zu.
    »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Sie scheinen so fasziniert zu sein von dem Brunnen. Aber es war unhöflich von mir, Sie anzustarren.«
    »Überhaupt nicht«, erwiderte er. »Ich bin tatsächlich fasziniert, weil ich so etwas noch nie gesehen habe. Können Sie mir sagen, wer die Frau mit den Flügeln ist?«
    »Sie wird Engel über den Gewässern genannt. Sie segnet das Wasser, und wer es trinkt, wird geheilt.«
    »Geheilt? Wovon?«
    Die Frau zuckte die Schultern, eine Geste, die sie noch jünger wirken ließ, als er gedacht hatte. »Woran immer sie leiden vermutlich.«
    »Und was«, fragte der Dschinn, »ist ein Engel?«
    Diese Frage erstaunte sie. Sie schaute ihn an, als wollte sie sich eine neue Meinung über ihn bilden. Wahrscheinlich hatte sie bereits den schlechten Schnitt seiner Kleidung und seinen Akzent bemerkt – aber seine Frage musste eine größere Fremdheit als seine Erscheinung impliziert haben.
    Sie sagte: »Also, Sir, ein Engel ist ein Bote Gottes. Ein himmlisches Wesen, von höherem Rang als der Mensch, aber immer noch ein Diener.«
    »Ich verstehe.« Tatsächlich ergab das, was sie sagte, wenig Sinn, doch er spürte, dass es falsch wäre nachzuhaken. Er würde Arbeely fragen müssen. »Und so sehen Engel aus?«
    »Vermutlich«, sagte sie. »Oder vielleicht ist es eine Möglichkeit, sich einen Engel vorzustellen. Es hängt ganz davon ab, was man glaubt.«
    Sie standen nicht ganz nebeneinander und schauten auf den Brunnen.
    Er musste etwas sagen, damit das Mädchen sich nicht von ihm entfernte. »So etwas wie sie habe ich noch nie gesehen.«
    »Sie müssen von
sehr
weit weg sein, wenn es in Ihrem Land keine Engel gibt«, sagte sie.
    Er lächelte. »Oh, aber in meinem Land gibt es Engel. Ich wusste nur nicht, was das Wort bedeutet.«
    »Und Ihre Engel sind nicht so wie sie?« Sie machte eine Kopfbewegung zu der Frau, die über ihnen aufragte.
    »Nein, sie sind nicht wie sie. In meinem Land sind die Engel aus immerwährendem Feuer. Sie können jede Gestalt annehmen, die ihnen gerade in den Sinn kommt, und in dieser

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