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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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nur auf der Sixth Avenue eine Haltestelle finden, und dann würde ihn die Bahn offensichtlich zum Park bringen.
    An der 14 th Street wandte er sich nach Osten, und die Passanten veränderten sich. Es waren weniger Kinder, dafür aber mehr Männer in Anzügen und mit Hüten unterwegs. Auf den Straßen wechselten sich elegante Kutschen mit Brauerei- und Lieferwagen ab. Auch die Häuser waren anders, höher und breiter. Hoch über der Sixth Avenue verlief ein schmales Eisenband, und darauf fuhr eine Kette von Eisenschachteln, von denen Funken auf die Straße darunter fielen. Durch die winzigen Fenster sah er kurz die zufriedenen Gesichter von Männern und Frauen vorbeirauschen.
    Er stieg eine Treppe zum Bahnsteig hinauf und gab dem Fahrkartenverkäufer ein paar Münzen. Bald fuhr ein Zug ein, der schrecklich kreischte, als er anhielt. Er stieg ein und setzte sich. Mehr und mehr Menschen kamen herein, bis alle Plätze besetzt waren und sich die Nachzügler in den Gängen aneinanderdrängen mussten. Der Dschinn schauderte, während sich der Wagen über alles vernünftige Maß hinaus füllte.
    Die Türen wurden geschlossen, und die Hochbahn setzte sich in Bewegung. Er hatte gedacht, dass es sich wie Fliegen anfühlen würde, doch von dieser Vorstellung musste er sich bald verabschieden. Der Zug vibrierte, als wollte er ihm die Zähne aus dem Kopf schütteln. Gebäude zogen so nah am Fenster vorbei, dass er zurückwich. Er überlegte, ob er an der nächsten Haltestelle wieder aussteigen und den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen sollte, doch die Gelassenheit der anderen Fahrgäste provozierte ihn. Er biss die Zähne zusammen und schaute mit grimmiger Miene hinunter auf die vorbeirasenden Straßen.
    Die Bahn endete an der 59 th Street. Er stieg die Treppe hinunter, ihm war ein bisschen schlecht. Es war jetzt später Nachmittag, und der Himmel bezog sich, wurde zu einem grauweißen Laken.
    Gegenüber dem Bahnhof ragte eine Mauer aus Grün auf. Ein hoher Eisenzaun verlief davor, als wollte er etwas Wildes eindämmen. Mitten im Zaun befand sich eine breite Lücke, in der die Sixth Avenue verschwand, einen Bogen machte und nicht mehr zu sehen war. Ein beständiger Strom von Fußgängern und Kutschen war unterwegs. Er überquerte die Straße und ging in den Park.
    Sofort verstummte der Verkehrslärm, und Stille senkte sich herab. Zu beiden Seiten des Weges standen Bäume, die die Luft kühlten. Kies knirschte unter seinen Füßen. Offene Kutschen fuhren langsam vorbei, die Hufe der Pferde klapperten in einem angenehmen Rhythmus. Von dem Weg zweigten kleinere Wege ab, manche breit und gepflastert, andere kaum mehr als Pfade, gesäumt von üppiger Vegetation.
    Bald war das schattige Wäldchen zu Ende, und vor ihm eröffnete sich eine weite geschwungene Fläche grüner Wiesen. Verblüfft blieb der Dschinn stehen und blickte über das Meer aus Gras. Bäume begrenzten es, sodass die Stadt nicht zu sehen war. In der Mitte weidete gemächlich eine Herde plumper staubig weißer Schafe. An dem Weg standen Bänke, und hier und da saßen Leute darauf, zu zweit oder dritt oder gelegentlich ein einzelner Herr – Frauen begaben sich nie allein in die Öffentlichkeit, das war ihm schon aufgefallen –, und schauten den Kutschen nach.
    Er trat kurz vom Weg auf die Wiese und spürte, wie die Erde unter seinen Füßen leicht nachgab. Er federte ein paarmal auf den Fersen auf und ab, ohne zu merken, dass er dabei lächelte. Er überlegte, ob er die Straße verlassen und über die große Wiese gehen sollte, womöglich sogar barfuß; aber dann sah er ein kleines, in den Boden gestecktes Schild, auf dem »Bitte die Wege nicht verlassen« stand. Und tatsächlich sahen ihn ein paar Passanten stirnrunzelnd an. Er hielt die Vorschrift für absurd, wollte jedoch nicht auffallen. Deswegen kehrte er auf den Weg zurück und schwor sich, nachts wiederzukommen, wenn er hoffentlich tun konnte, was ihm beliebte.
    Die Droschkenstraße machte eine Kurve nach Osten, und der Dschinn folgte ihm über eine hübsche Holzbrücke. Durch eine Gruppe hoher Bäume erspähte er einen langen geraden Weg, der grauweiß schimmerte. Er verließ die Straße, um nachzuforschen, und der grauweiße Weg entpuppte sich als breite Promenade aus großen Steinplatten, beschattet von hohen Bäumen. Hier waren mehr Menschen unterwegs als auf der Droschkenstraße, doch das Ausmaß der Anlage war so enorm, dass er die Leute kaum bemerkte. Kinder liefen an ihm vorbei, und der Reifen eines

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