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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Form plötzlich vor einem Menschen stehen, so wie der Wind plötzlich den Sand aufwirbelt.«
    Sie hörte ihm zu und ließ ihn nicht aus den Augen. Er fuhr fort: »Die Engel in meinem Land dienen niemandem, weder einer höheren noch einer niedrigeren Macht. Sie treiben sich herum, wo sie wollen, und lassen sich nur von ihren Launen leiten. Wenn sie sich begegnen, reagieren sie manchmal gewalttätig oder aber leidenschaftlich. Und wenn sie Menschen begegnen« – er lächelte hinunter in ihre staunenden Augen – »ist es oft genauso.«
    Sie blickte verschämt weg. Eine Weile waren nur das Geräusch des Wassers und entfernte Stimmen zu hören. »Ihr Land«, sagte sie schließlich, »klingt wie ein wilder Ort.«
    »Das kann es manchmal sein.«
    »Und gilt es in Ihrem Land als schicklich, in einem öffentlichen Park so mit einer Frau zu sprechen?«
    »Vermutlich nicht«, sagte er.
    »Oder vielleicht sind die Frauen in Ihrem Land auch anders, dass Sie sich solche Freiheiten herausnehmen können.«
    »Nein, sie sind nicht so anders«, erwiderte er amüsiert. »Obwohl ich bis heute behauptet hätte, dass sie die Frauen hier sowohl an Schönheit als auch an Stolz weit übertreffen. Doch soeben stelle ich fest, dass meine Annahme erschüttert ist.«
    Sie riss die Augen auf und holte Luft, um ihm zu antworten – und er wollte unbedingt hören, was immer sie sagen würde –, doch plötzlich blickte sie nach links und rückte einen Schritt von ihm ab. Eine alte Frau in einem steifen schwarzen Kleid und mit einem Hut mit Schleier kam auf sie zu. Gleich darauf stand sie neben der jungen Frau, die mit Mühe eine neutrale Miene aufgesetzt hatte.
    »Danke, dass du so geduldig gewartet hast, meine Liebe«, sagte die alte Frau. »Die Schlange war schrecklich lang. Du musst gedacht haben, dass ich dich im Stich gelassen habe.«
    »Überhaupt nicht. Ich habe den Brunnen angeschaut.«
    Die alte Frau blickte grimmig über den Kopf des Mädchens zu dem Dschinn hinüber, und flüsterte ihr dann etwas ins Ohr.
    »Natürlich nicht«, antwortete die junge Frau kaum hörbar. »Tante, du weißt, dass ich das nie tun würde. Er hat nur versucht, mir eine Frage zu stellen, aber ich habe ihn nicht verstanden. Ich glaube, er spricht kein Englisch.«
    Sie warf ihm rasch einen flehentlichen Blick zu:
Bitte, verraten Sie mich nicht.
Amüsiert senkte er den Kopf ein wenig, die Andeutung eines Nickens.
    »So eine Unverschämtheit«, murmelte die alte Dame und blickte den Dschinn aus zusammengekniffenen Augen an. Sie sprach jetzt lauter, weil sie dachte, er verstünde sie nicht, obwohl ihr Tonfall unmissverständlich war. »Bitte entschuldige, Sophia, ich hätte dich nicht allein lassen dürfen.«
    »Wirklich, Tante, das macht doch nichts«, sagte die junge Frau, und ihrer Stimme war die Verlegenheit anzuhören.
    »Versprich mir, dass du deinen Eltern kein Wort davon erzählst, oder sie werden mir ewig Vorwürfe machen.«
    »Ich verspreche es.«
    »Gut. Und jetzt gehen wir nach Hause. Deine Mutter wird außer sich sein, wenn du nicht rechtzeitig fertig bist.«
    »Ich kann diese Feste nicht ausstehen, sie sind so langweilig.«
    »Sag das nicht, meine Liebe, die Saison fängt gerade erst an.«
    Die ältere Frau hakte sich bei der jüngeren unter – Sophia hatte sie sie genannt. Sophia blickte zum Dschinn. Sie sah aus, als wollte sie etwas sagen. Stattdessen ließ sie sich von der Frau vom Brunnen fort und über den Platz aus roten Ziegeln führen. Sie stiegen die Treppe zur Droschkenstraße hinauf und waren nicht mehr zu sehen.
    Der Dschinn lief schnell über den Platz und drängte erschrockene Passanten zur Seite, nahm zwei oder drei Stufen auf einmal und blieb stehen, bevor er ganz oben angekommen war. Ohne selbst gesehen zu werden, beobachtete er, wie die beiden Frauen zu einer glänzenden Kutsche mit offenem Verdeck gingen, die auf der Straße wartete. Ein Mann in Livree hielt ihnen den Verschlag auf. »M’Lady. Miss Winston.«
    »Danke, Lucas«, sagte die junge Frau, als er ihr beim Einsteigen half.
    Der Mann stieg auf den hohen Kutschbock und schnalzte, und die Kutsche rollte auf der Straße davon. Der Dschinn schaute ihr nach, bis sie um eine Baumgruppe gefahren und nicht mehr zu sehen war.
    Er überlegte. Es war schon spät und wurde allmählich kalt. Der Himmel war noch immer bewölkt und drohte mit Regen. Jetzt wäre es an der Zeit, sich nach Süden zu wenden und nach Hause zurückzukehren. Zweifellos fragte Arbeely sich schon, wo er

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