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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Danke.«
    Sie schloss die Tür und horchte auf die Schritte, die sich im Flur entfernten, dann ging sie wieder auf den Balkon. Er stand noch da, wo sie ihn zurückgelassen hatte, und blickte amüsiert drein.
    »Sehr geschickt«, sagte er. »Machen Sie das oft?«
    Sie errötete in der Dunkelheit. »Meine Mutter und ich sind meist unterschiedlicher Meinung«, antwortete sie. »Wir sind sehr verschieden. Wir wollen verschiedene Dinge vom Leben.«
    »Und was wollen Sie vom Leben?«, fragte er.
    Sie rührte sich nicht, zwang sich jedoch dazu, ihm in die Augen zu schauen. Sie würde nicht noch einmal erröten, sagte sie sich; sie würde nicht wegblicken. »Warum sind Sie gekommen? In Wahrheit, meine ich. Nicht diesen Unsinn, dass Sie sich entschuldigen wollten.«
    »Weil Sie mich faszinieren, und weil Sie schön sind«, sagte er.
    Daraufhin errötete sie wieder, wandte sich ab und trat einen Schritt von ihm weg. »Sie sind viel direkter als die meisten Männer.«
    »Und das missfällt Ihnen?«
    »Nein. Nicht unbedingt. Aber ich bin nicht daran gewöhnt.« Sie seufzte. »Um die Wahrheit zu sagen, ich habe alle Männer satt, die nicht direkt sind. Und heute Abend wird das Haus voll davon sein.« Sie schaute wieder zu ihm. »Ihre Heimat, die Wüste. Wollen Sie mir mehr darüber erzählen?«
    »Man kann tagelang, monatelang, jahrelang durch die Wüste ziehen, ohne einer anderen Seele zu begegnen«, sagte er leise. »Oder, wenn man will, sucht man die Gesellschaft der Wüstenvölker, oder man versucht, die Geschöpfe aufzuspüren, die nicht gesehen werden wollen – obwohl das« – er lächelte geheimnisvoll – »ziemlich schwierig ist. Wenn Sie fliegen könnten, könnten Sie mit den Vögeln, den Falken fliegen. Wie sie könnten Sie im Flug schlafen.« Er hielt inne. »Jetzt werde ich
Ihnen
eine Frage stellen. Warum wird Ihr Haus voller Männer sein, die nicht direkt sind?«
    Sie seufzte erneut. »Weil ich jetzt alt genug bin, um zu heiraten. Und weil mein Vater sehr, sehr reich ist. Sie sind alle auf der Suche nach einer guten Partie. Sie werden mir Komplimente zu meinem Aussehen und meinen Ansichten machen. Sie werden sich bei meinen Freundinnen nach meinem Geschmack erkundigen und ihn als ihren eigenen ausgeben. Ich bin die Jagdbeute, und dabei wollen sie nicht einmal mich. Ich bin einfach nur ein Mittel zum Zweck.«
    »Sind Sie sich da so sicher? Wenn ein Mann Ihnen sagt, dass Sie schön sind, zweifeln Sie dann an seiner Aufrichtigkeit?«
    Sie zögerte, holte tief Luft und sagte: »Vermutlich hängt das von dem Mann ab.«
    Sie rückten wieder näher zueinander. Die Zypressen am Rand des Gartens waren hoch genug, um die Umgebung des Anwesens auszublenden; wenn sie sich nicht bewegte und den Kopf ein wenig gesenkt hielt, war es, als wäre sie nicht in New York, sondern in einem Garten am Mittelmeer. Die leisen Geräusche von der Straße waren die ferne Brandung. Der Mann neben ihr war ein Fremder. Irgendwer.
    Sie spürte, wie die ihr zugestandenen Sekunden eine nach der anderen vergingen. Er wartete, geduldig und achtsam, beobachtete sie. Sie schauderte.
    »Ist Ihnen kalt?«, fragte er.
    »Ihnen nicht?«
    »Mir ist nur selten kalt.«
    Er blickte durch die Balkontür in das Schlafzimmer, fragte jedoch nicht, ob sie sich im Haus wohler fühlen würde. Stattdessen näherte er sich ihr, ganz langsam – so langsam, dass sie genug Zeit hätte, um zu protestieren, sich zurückzuziehen, sollte sie das nicht wollen – und legte ihr eine Hand auf die Taille.
    Sobald er sie berührte, erfüllte Wärme ihren Bauch und breitete sich aus. Sie spürte die Hitze seiner Hand durch den Stoff des Morgenrocks und des Schultertuchs hindurch. Sie schloss die Augen. Endlich trat sie näher und hielt ihm das Gesicht entgegen.
    Später überlegte sie, dass er nichts zu ihrer Kühnheit sagte oder sie fragte, ob sie es wirklich wollte, oder andere schickliche Einwände erhob, wie es ein Mann tun musste, um sich von jeglicher Verantwortung reinzuwaschen. Irgendwann schien er sie hochzuheben und durch die Tür zu ihrem Bett tragen zu wollen, aber sie schüttelte den Kopf,
nein
, weil sie die Nacht und den schattigen Garten nicht verlassen wollte und Angst hatte, dass sie in ihrem nur allzu vertrauten Kinderzimmer der Mut verlassen würde. Und so fand ihr Rendezvous in einer dunklen Ecke des Balkons statt, die Steinmauer kalt in ihrem Rücken. Sie wickelte das Schultertuch um sie beide und zog ihn an sich. Seine Hände schienen überall

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