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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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essen. Danach Alter und Altersschwäche, die langsame Verwandlung zu einem Häufchen schwarzen Tafts in einem Rollstuhl, der bei Festlichkeiten kurz hereingeschoben und dann außer Sichtweite gebracht wurde; ihre letzten Tage würde sie verwirrt vor dem Kamin verbringen und sich fragen, wohin ihr Leben verschwunden war.
    Sie wusste, dass sie sich nicht gegen ihr Schicksal auflehnen würde. Sie hatte nicht das Durchhaltevermögen, um einen langen Familienstreit auszutragen, oder die Stärke, um ihren eigenen Weg zu gehen. Und um zu entkommen, schwelgte sie in Phantasien von Rebellion und Abenteuer, angeregt von den Büchern in der Bibliothek ihres Vaters, von Journalen, die ihre Gedanken mit Geschichten über exotische Länder und alte Zivilisationen beflügelten. Sie träumte davon, mit einem mongolischen Stamm durch die Steppe zu reiten oder auf dem Amazonas ins Herz des Urwalds zu treiben oder in leinerner Tunika und Hose über die farbenfrohen Märkte Bombays zu spazieren. Die unvermeidlichen Unannehmlichkeiten so einer Reise wie zum Beispiel, auf ein richtiges Bett oder fließendes Wasser zu verzichten, spielten keine Rolle, weil sie passenderweise nicht Bestandteil dieser Träume waren.
    Vor kurzem hatte sie einen Artikel über den verstorbenen Heinrich Schliemann und seine Entdeckung der untergegangenen griechischen Stadt Troja gelesen. Alle Kollegen Schliemanns hatten darauf bestanden, dass die Stadt nur ein homerischer Mythos sei, dass Schliemann einer Phantasie nachjage. Aber Schliemann hatte triumphiert. Den Artikel illustrierte das Foto einer wunderschönen dunkeläugigen Frau, geschmückt wie eine Kriegerkönigin mit uraltem Schmuck, der an der Ausgrabungsstätte gefunden worden war. Es war Schliemanns griechische Frau, die ihm bei den Ausgrabungen geholfen hatte. Und als Sophia las, dass die Frau auch Sophia hieß, empfand sie einen bitteren Stich, als hätte das Schicksal sie übergangen. Wenn nur Sophia Winston den alten Schmuck getragen hätte, wenn nur Sophia Winston neben ihrem unerschrockenen Mann an der Ausgrabungsstätte gestanden und auf das goldene Gesicht Agamemnons geblickt hätte!
    Sie konnte diesen Träumen stundenlang nachhängen. Erst an diesem Nachmittag, während des Spaziergangs im Park, hatte sie sich immer wieder einer dieser Phantasien hingegeben, um sich von dem scharfzüngigen Klatsch ihrer Tante und dem schrecklichen Fest, das ihr bevorstand, abzulenken. Der fremde Mann am Brunnen schien diesem Tagtraum entstiegen zu sein: ein großer, gut aussehender Fremder, der in perfektem Englisch mit ihr sprach. Jetzt, im vertrauten Lichtschein ihres Schlafzimmers, zuckte sie zusammen, als sie sich an ihre Unterhaltung erinnerte. Er hatte sie dazu gebracht, sich aufgeregt, jung und völlig unerfahren zu fühlen.
    Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit dem Fest abzufinden; also setzte sie sich vor den Spiegel und begann, ihr Haar zu bürsten. Ihr Mädchen hatte bereits das neue Kleid aus weinroter Seide herausgelegt. Sie musste zugeben, dass sie sich darauf freute, es zu tragen; die diesjährige Mode schmeichelte ihrer Figur.
    Am Rand ihres Sichtfelds bewegte sich etwas. Sie drehte sich erschrocken um. Ein Mann stand auf dem Balkon vor den Fenstertüren und spähte durch das Glas herein.
    Sie sprang auf und hätte fast geschrien. Sie zog den Bademantel fest um sich. Der Mann hob die Hände und sah sie flehentlich an, bat sie ganz eindeutig, nicht Alarm zu schlagen. Sie blinzelte, um jenseits ihres Spiegelbilds etwas erkennen zu können, und sah, dass er es war, der Mann aus dem Park.
    Sie starrte ihn an. Wie war er auf das Anwesen gekommen? Ihr Zimmer befand sich im zweiten Stock – war er an der Mauer hochgeklettert und dann über die Balkone gestiegen? Sie zögerte einen Augenblick, nahm dann die Lampe und ging zur Balkontür, um ihn besser sehen zu können. Er beobachtete, wie sie sich näherte. Das Glas verzerrte seine Gestalt, und er stand unnatürlich still. Einen Meter vor der Tür blieb sie stehen und überlegte. Sie konnte immer noch schreien.
    Der Mann lächelte und streckte einen Arm aus. Eine Aufforderung – zum Reden?
    Mit klopfendem Herzen holte sie ein Schultertuch und trat hinaus auf den Balkon. Der Abend war kühl, und es roch nach Regen. Sie schloss die Tür nicht hinter sich, wickelte das Tuch jedoch fest um sich. »Was tun Sie hier?«
    »Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen«, sagte er.
    »Zu
entschuldigen

    »Ich fürchte, ich habe Sie vorhin

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