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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Hebamme und den Dorfdeppen. In Lemberg stattete er einem alten Rabbi, der im Sterben lag einen Besuch ab, und zwar in Gestalt eines
Sched
, eines Dämonenkindes der Lilith, der aus der Gehenna geflohen war, um den armen Mann zu foltern. Auf diese Weise zwang er den entsetzten Rabbi zu dem Geständnis, dass er einst eine Formel für das sogenannte Wasser des Lebens gesehen hatte. Doch als Schaalman weiter in ihn drang, barst das Herz des alten Mannes. Schaalman sah zu, wie die Seele des Rabbis aus seiner Reichweite trieb, und er heulte vor Zorn und Enttäuschung laut auf, sodass er noch mehr wie ein Dämon aus der Hölle aussah.
    Danach war er nicht mehr so viel unterwegs und blieb meist in der Nähe von Konin. Er wurde zu alt; auf den Straßen lauerten Gefahren, denen er nicht immer entgehen konnte. Aber immer, ständig, von Tag zu Tag rückte der Tod näher, den er unbedingt vermeiden wollte.
    Er starrte ins Feuer und fällte eine Entscheidung. Er konnte es sich nicht leisten, den ganzen Winter über einen ungehobelten Möbelschreiner nachzudenken. Besser war es, die juckende Stelle zu kratzen und die Sache damit zu erledigen.
    Er stand auf, zog einen alten Mantel an und zuckte zusammen, als seine Knochen knackten. Dann nahm er eine große Schale von seinem Arbeitsplatz und ging vor die Hütte. Ungewöhnlich früh im Jahr war in der Nacht Schnee gefallen. Er kniete sich auf den Boden, kratzte Schnee zusammen und häufte ihn in die Schale. Wieder in der Hütte, stellte er die Schale auf die Feuerstelle und sah zu, wie der Schnee zusammenfiel und schmolz. Er wünschte, es wäre nicht so weit gekommen. Als sich die letzten Kristalle aufgelöst hatten, zog Schaalman die Schale vom Feuer. Er holte das zerfledderte Buch aus der Kiste, blätterte es durch und überprüfte, ob er sich richtig an die Formel erinnerte. Aus einem Lederbeutel nahm er eine der Münzen, mit denen Rotfeld ihn bezahlt hatte, und setzte sich im Schneidersitz vor der Schale mit Wasser auf den Boden. Er schloss die linke Hand fest um die Münze und murmelte einen langen Zauberspruch. Mit der Rechten hob er vorsichtig die Schale an. Noch ein Spruch, ein tiefes Luftholen – dann lehnte er sich zurück und goss die Schale über seinem Kopf aus.
    Der Schock des eiskalten Wassers auf seinem Gesicht –
    Und dann war er fort, er war woanders.
    Ein ungeheures Gewicht lastete auf seiner Brust. Endlose Wassermassen befanden sich über ihm, drückten ihn nach unten, zerquetschten seinen Körper, zermalmten seine Knochen. Nie zuvor hatte er so gefroren. Er spürte das Nagen von Tausenden winziger Zähne. In jeder Richtung erstreckte sich eine Schwärze, die jedes Licht aufsaugte.
    Der Winkel seines Geistes, der noch Schaalman war, begriff, dass Rotfeld es nicht bis nach Amerika geschafft hatte. Alle diese Mühe für nichts. Nicht erweckt, wäre der Golem mittlerweile zerfallen, eine nicht abgeholte Kiste voll bröckelnder Erde und einem schmutzigen Kleid. Ein Jammer.
    Und dann veränderte sich überraschenderweise die Szenerie.
    Das drückende Gewicht des Wassers war verschwunden. Jetzt war er nicht mehr unter dem Ozean begraben, sondern flog darüber hinweg, tief und schnell, schneller als jeder Vogel. Meile für Meile verschwand wogendes Wasser hinter ihm. Der Wind rauschte in seinen Ohren.
    Am Horizont erwuchs eine Stadt, ragte schließlich vor ihm auf.
    Als er näher kam, stieg er höher, bis er weit oben über ihr schwebte. Die Stadt erstreckte sich auf einer Insel, die zwischen dem Festland eingeklemmt war. Türme und Kirchtürme deuteten wie Lanzen zu ihm hinauf.
    Er schaute hinunter auf die schmalen Straßen und sah, dass die Stadt ein Labyrinth war. Und wie alle Labyrinthe versteckte sie etwas Kostbares in ihrem Innersten. Was versteckte sie?
    Eine Stimme flüsterte lautlos die Antwort.
    Ewiges Leben.
    Schaalman tauchte hustend wieder auf. Die Schale lag umgestürzt auf dem Boden. Gefrierendes Wasser tropfte von seinem Gesicht und seinen Kleidern. Seine linke Faust brannte. Die Münze war kälter als Eis geworden.
    Den restlichen Tag über lag er zitternd im Bett, eingewickelt in alle Decken und Teppiche, die er besaß. Seine Gelenke schmerzten, und die Handfläche mit der erfrorenen Stelle sandte Blitze aus Feuer in seinen Arm. Aber er war ruhig, und seine Gedanken waren klar.
    Am nächsten Morgen stand er auf, fuhr sich mit den Fingern durch den Bart und ging in die Stadt, um eine Schiffspassage nach New York zu kaufen.

    Als Michael Levy an einem

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