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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Bäckerei mit einem leichteren Herzen und freuten sich, dass an diesem Tag zumindest eine Sache, diese schlichte Besorgung, gut gegangen war.
    Es gab noch immer Probleme, die gelöst werden mussten. Sie neigte dazu, zu schnell zu arbeiten, und die Kunden wurden ängstlich oder gereizt, weil sie glaubten, sie wolle sie zu etwas drängen. Und so übte sie, sich zu bremsen, sich nach der Gesundheit und den Familien der Leute zu erkundigen, auch wenn die Schlange lang war. Sie lernte sogar, mit den Kunden umzugehen, die stets unschlüssig waren, an der Theke standen und die Vorteile von diesem oder jenem erörterten. Der Durchbruch ereignete sich eines Tages, als eine Frau sie bat, für sie zu entscheiden und ihr zu geben, was sie selbst am liebsten mochte. Aber sie hatte keine Präferenzen – sie hatte alles probiert und konnte ein Gebäck vom anderen unterscheiden, aber für sie gab es kein Mögen oder Nicht-Mögen. Es war bloß eine andere Erfahrung. Zuerst wollte sie nach dem Zufallsprinzip vorgehen – doch dann fiel ihr plötzlich etwas ein und sie tat, was sie sich nur selten gestattete. Sie konzentrierte sich auf die Frau und sichtete das Durcheinander ihrer im Widerstreit liegenden Wünsche.
Etwas Billiges wäre am besten, aber sie wollte auch etwas Süßes … sie war so niedergeschlagen diese Woche, weil der Hausbesitzer die Miete erhöht hatte, und dann war da noch der schreckliche Streit mit ihrem Sammy gewesen, hatte sie sich nicht etwas Nettes verdient? Aber wenn sie es aufgegessen hätte, würde sie sich nicht besser, sondern nur ärmer fühlen …
    »An einem Tag wie heute mag ich eine Challa mit Rosinen«, sagte der Golem. »Sie ist süß, macht aber satt. Und eine Challa hält lange vor.«
    Sofort strahlte die Frau. »Genau«, sagte sie. »Das ist genau, was ich will.« Und sie bezahlte die Challa und ging in gehobener Stimmung.
    Erfreut über ihren Erfolg, wandte der Golem diese Methode auch bei anderen unschlüssigen Kunden an. Sie traf öfter ins Schwarze als daneben und versuchte, die Misserfolge nicht persönlich zu nehmen. Mit der Zeit wurde ihr klar, dass manche Leute aus was für einem Grund auch immer nie zufrieden waren.
    Gelegentlich machte sie noch Fehler, vor allem am Ende des Tages, wenn sie zerstreut wurde und ihre Gedanken abschweiften. Sie griff nach der falschen Sache oder nannte jemanden beim falschen Namen oder machte einen anderen albernen kleinen Fehler. Hin und wieder ging ein Kunde mit dem falschen Gebäck hinaus und kam zurück, um sich zu beschweren. Dann entschuldigte sie sich vielmals, erschrocken über ihre schlechte Leistung – aber andererseits war es gut, denn sonst hätten ihre Arbeitgeber sie vielleicht für unfehlbar gehalten. Mr. Radzin war ein pedantischer Buchhalter und war die Zahlen wiederholt durchgegangen. Aber es gab keinen Zweifel: Sie verkauften aus keinem ersichtlichen Grund mehr, während auf der anderen Seite des Buches die Ausgaben sanken. Intuitiv wusste er, dass es mit dem neuen Mädchen zu tun hatte. Sie machte kleine Fehler im Verkauf, aber sie verstand nie ein Rezept falsch oder salzte den Teig aus Versehen zweimal oder ließ ein Blech mit Plätzchen zu lange im Ofen. Sie war nie krank, arbeitete nie langsam, kam nie zu spät. Sie war ein Wunder an Produktivität.
    Doch es passierte immer mal wieder, dass sie sich verhielt, als wäre sie von einem anderen Stern. Eines Morgens sah Mrs. Radzin, wie sie eingehend ein Ei betrachtete. »Was ist los, Chavaleh? Ist es schlecht?«
    Ohne den Blick von dem Ei abzuwenden, erwiderte das Mädchen gedankenverloren: »Nichts – aber wie schaffen sie es nur, dass es immer die gleiche Größe und Form hat?«
    Mrs. Radzin runzelte die Stirn. »Wie schafft es
wer
, Liebes? Die Hühner?«
    Am Arbeitstisch lachte Anna schnaubend.
    Das Mädchen legte vorsichtig das Ei ab und sagte, »Entschuldigen Sie mich« und verschwand nach hinten.
    »Hänsel sie nicht, Anna«, schimpfte Mrs. Radzin.
    »Aber was für eine komische Frage!«
    »Hab Mitgefühl, sie ist eine trauernde Witwe. Das kann einen durcheinanderbringen.«
    Radzin ignorierte die Frauen und ging nach hinten, um Mehl zu holen. Die Toilettentür war geschlossen. Er horchte, ob sie weinte – aber stattdessen hörte er sie flüstern: »Du musst besser aufpassen.
Du musst besser aufpassen.
« Er holte das Mehl und ging wieder nach vorn. Ein paar Minuten später kehrte sie zurück, als wäre nichts geschehen, nahm wortlos die Arbeit wieder auf und

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