Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
ignorierte Annas gelegentliches Kichern.
»Was glaubst du, stimmt nicht mit ihr?«, fragte Radzin seine Frau am Abend.
»Mit Chava ist alles in Ordnung«, antwortete sie ärgerlich.
»Ich habe Augen im Kopf, Thea, und du auch. Irgendwie ist sie anders.«
Sie lagen im Bett. Neben ihnen an der Wand schliefen Abie und Selma in ihrem Stockbett so tief, wie nur Kinder schlafen können.
»Als Kind kannte ich einen Jungen«, sagte Thea, »der nicht aufhören konnte, Dinge zu zählen. Grashalme, Ziegeln in einer Mauer. Die anderen Jungen bildeten einen Kreis um ihn und riefen ihm Zahlen zu, denn wenn er sich verzählte, musste er von vorn anfangen. Er stand einfach nur da und zählte, und dabei sind ihm Tränen übers Gesicht gelaufen. Ich war so wütend. Ich habe meinen Vater gefragt, warum er nicht aufhören kann zu zählen, und er hat gesagt, dass der Junge von einem Dämon besessen ist. Und dass ich mich von ihm fernhalten soll für den Fall, dass er etwas Gefährliches tut.«
»Und hat er? Etwas Gefährliches getan?«
»Natürlich nicht. Aber er ist gestorben, ein Jahr bevor wir weggegangen sind. Ein Maultier hat ihn an den Kopf getreten.« Sie hielt inne und fuhr dann fort: »Ich habe mich immer gefragt, ob er es provoziert hat. Mit Absicht.«
Radzin schnaubte. »Selbstmord durch Maultier?«
»Alle haben gewusst, dass das Tier unberechenbar ist.«
»Es gibt ein Dutzend bessere Wege, sich umzubringen.«
Seine Frau drehte sich von ihm weg. »Ach, ich weiß nicht, warum ich überhaupt mit dir rede. Wenn ich sage, etwas ist schwarz, ist es deiner Ansicht nach weiß.«
»Wenn ich Chava bei einem Maultier stehen sehe, sage ich dir Bescheid.«
»Du bist ein schrecklicher Mann. Eine Rübe ist zu mehr zu gebrauchen als dein Kopf.« Sie schwiegen einen Moment. »Ich möchte sehen, wie ein Maultier versucht, sie zu treten. Sie würde seine Beine flechten wie eine Challa.«
Radzin lachte in dem kleinen Zimmer laut auf. Der Junge murmelte etwas. Seine Schwester rührte sich in dem Bett. Ihre Eltern warteten angespannt – aber die Kinder beruhigten sich wieder.
»Schlaf jetzt«, flüsterte Thea. »Und lass mir ausnahmsweise etwas Decke.«
Radzin lag lange Zeit wach und horchte auf das Atmen seiner Kinder und seiner Frau. Am nächsten Morgen nahm er seine neue Angestellte beiseite und erklärte ihr, dass er ihren Lohn um zehn Cent pro Tag erhöhen würde. »Du hast es verdient«, sagte er barsch. »Aber ein Wort zu Anna, und du musst die zehn Cent mit ihr teilen. Ich will nicht, dass sie um Geld zetert, das ihr nicht zusteht.« Er erwartete, dass sie sich bedanken würde, doch stattdessen blickte sie betrübt drein. »Also? Ich habe gerade deinen Lohn erhöht, Mädchen. Freust du dich nicht?«
»Doch«, sagte sie sofort. »Doch, natürlich. Danke. Und ich werde Anna nichts erzählen.« Aber an diesem Tag schien sie nachdenklicher als üblich; und ein-, zweimal sah er sie schuldbewusst zu Anna blicken.
»Aber es ist nicht fair, dass er Anna weniger zahlt als mir«, sagte der Golem zu Rabbi Meyer. »Sie kann nicht so hart arbeiten wie ich! Es ist nicht ihre Schuld!«
Der Golem schritt im Wohnzimmer des Rabbis auf und ab. Es war Freitagabend, und das Geschirr des bescheidenen Abendessens stand noch auf dem Tisch. Der Golem freute sich jedes Mal auf den Sabbatabend – es war die einzige Gelegenheit in der Woche, dass sie Fragen stellen und frei von der Leber weg sprechen konnte. Aber an diesem Abend drängte ihr Dilemma alle anderen Gedanken in den Hintergrund. Der Rabbi sah sie besorgt an.
»Ich
brauche
das Geld nicht«, murmelte sie. »Es gibt nichts, wofür ich es ausgeben könnte.«
»Warum kaufst du dir nicht etwas Hübsches, als Belohnung für die Arbeit? Einen neuen Hut vielleicht?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich habe schon einen Hut. Stimmt mit dem etwas nicht?«
»Nein, nein«, sagte er und dachte, dass ihr Schöpfer sie definitiv nicht mit dem bei jungen Frauen üblichen Sinn für Frivolität ausgestattet hatte. »Chava, ich verstehe, warum du dich empörst, und es spricht für dich. Aber in Radzins Augen bist du mehr wert als Anna. Aus seiner Sicht wäre es nicht richtig, Euch beide gleich zu bezahlen. Nehmen wir an, ich müsste einen neuen Suppentopf kaufen und könnte zwischen einem großen und einem kleinen wählen. Ich muss davon ausgehen, dass der größere mehr kostet, oder?«
Der Golem sagte: »Aber was, wenn der Mann, der den kleineren Topf gemacht hat, ärmer ist und eine größere Familie
Weitere Kostenlose Bücher