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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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hüten, wenn das Wetter gut ist. Und manchmal müssen wir Frauen zu unserer eigenen Arbeit auch noch Männeraufgaben übernehmen. Wenn ein Zelt im Wind zusammenbricht, kann es eine Frau ebenso gut mit ihren Armen wieder aufrichten wie ein Mann. Und wenn wir unsere Zelte abbrechen, dann müssen alle zusammenarbeiten.«
    Sie hielt inne. Weit weg rührte sich dieser andere Körper, ihr schlafendes Selbst. In der Ferne hörte sie die morgendlichen Geräusche, das Gähnen eines Kindes, Schritte, ein vor Hunger weinendes Kind. Die Glasmauern des Palastes wurden dunkel und rückten in die Ferne.
    »Ich muss jetzt wohl gehen«, sagte der Mann. »Wirst du wieder mit mir reden?«
    »Ja«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Wann?«
    »Bald«, sagte er. »Und jetzt wach auf.«
    Er neigte sich über sie und streifte mit den Lippen ihre Stirn. Sie spürte es sowohl mit ihrem wachen als auch mit ihrem schlafenden Selbst; und ein Schauder durchfuhr sie bis in die Knochen.
    Dann war sie wach und starrte auf die vertrauten Wände des Zelts. Sie bauschten sich in einer Brise, die sich für einen Frühlingsmorgen erstaunlich warm anfühlte.
    Die Einzelheiten des Traums verblassten rasch, doch bestimmte Dinge vergaß sie nicht. Das Gesicht ihres Vaters, als er den Palast erblickte, der nicht existieren konnte. Die vom Mondschein erhellten Züge des Mannes. Die heiße Berührung seiner Lippen auf ihrer Haut. Und sein Versprechen, dass er wiederkommen würde.
    Wenn Fadwa an diesem Tag öfter als üblich vor sich hin lächelte – so wie es ein Mädchen tut, wenn es an ein Geheimnis denkt –, so bemerkte es ihre Mutter nicht.

Kapitel  10
    F euchte Winde bliesen durch den Wald um Konin. Yehudah Schaalman saß in einem uralten Sessel in seiner baufälligen Hütte, eine alte Decke um die Schultern gelegt. Laub und Papierfetzen wehten über den Lehmboden. Das Feuer im Kamin flackerte und knisterte, und Schaalman fragte sich, wie wohl das Wetter in New York war. Saßen Otto Rotfeld und sein Golem auch vor einem Feuer und verbrachten dort wonnigliche Stunden? Oder war der Möbelschreiner seiner Lehmfrau bereits überdrüssig geworden und hatte sie zerstört?
    Er riss sich zusammen und machte ein finsteres Gesicht. Warum dachte er immer wieder über Rotfeld nach? Normalerweise vergaß er seine Kunden und ihre verbotenen Vorhaben sofort. Er nahm ihr Geld, gab ihnen, was sie wollten, und knallte ihnen die Tür vor der Nase zu. Warum war es mit Rotfeld so anders?
    Vielleicht lag es an dem Golem. Er hatte sich große Mühe gegeben mit diesem Geschöpf, wesentlich mehr Mühe als er normalerweise für einen Kunden aufwandte. Es war ein spannendes Geduldspiel gewesen, Rotfelds disparate Wünsche in einer Kreatur zu vereinen, und er hatte bedauert, nicht mitzuerleben, wie sie zum Leben erwachte. Obwohl es andererseits wahrscheinlich besser war angesichts der unvorhersehbaren Natur von Golems im allgemeinen. Es war weit sicherer, hier auf dieser Seite des Ozeans zu sein und nicht bei Rotfeld in New York, wenn er seine Braut zum Leben erweckte.
    Mürrisch widerstand er dem Impuls, wie ein Hund den Kopf zu schütteln. Er hatte keine Zeit für Grübeleien. Rotfelds Geld war fast aufgebraucht, und trotz langer Studien war er seinem Ziel nicht näher gekommen, das Geheimnis ewigen Lebens zu ergründen.
    Unter seiner mit Stroh gefüllten Matratze in einer Ecke der Hütte stand eine verschlossene Kiste, und in der Kiste befand sich das zerfledderte Buch, das er vor langer Zeit aus der verbrannten Synagoge mitgenommen hatte. Zwischen den mürben Überresten steckten jetzt ganze Seiten Papier, auf denen Schaalman in dem Versuch, seine Wissenslücken zu füllen, Formeln, Schaubilder, Beobachtungen notiert hatte. Es war sowohl eine Chronik seiner Studien wie auch ein Tagebuch seiner Reisen. Nach jenem Tag in der Synagoge war er von Stadt zu Stadt, von Schtetl zu Schtetl, durch Polen, Russland, Westpreußen und wieder zurück gewandert auf der Suche nach den fehlenden Teilen. In Krakau ging er zu einer Frau, die angeblich eine Hexe war, stahl ihr Wissen und machte sie stumm, damit sie ihn nicht mit einem Fluch belegen konnte. Einmal wurde er aus einem russischen Dorf gejagt, nachdem im Frühjahr jedes schwangere Mutterschaf innerhalb von drei Wegstunden ein Lamm mit zwei Köpfen zur Welt gebracht hatte. Jemand war auf den Gedanken gekommen, den fremden Juden der Hexerei zu verdächtigen – zu Recht, doch in ihrem Eifer vertrieben sie auch eine harmlose alte

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