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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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ihr Vater. Selbst aus der Entfernung wusste sie, dass er es war; und sie sah mit Augen, die irgendwie scharfsichtiger waren als ihre eigenen, den Schrecken und die Angst in seinem Gesicht. Er blinzelte und trat zurück; und Fadwa fühlte sich gekränkt, weil er sie angelogen hatte.
    Sie wandte sich zu dem großen Mann um, und aus dem Tag wurde wieder Nacht. In dem unwirklichen Mondlicht betrachtete sie ihn unverhohlen, wie sie es wach nie gewagt hätte. In seinen dunklen Augen sah sie winzige Flecken, die rotgolden flackerten.
    »Was bist du?«, fragte sie.
    »Ein Dschinn«, sagte er.
    Sie nickte. Es war die einzige Antwort, die ihr sinnvoll erschien.
    »Hast du keine Angst?«, fragte er.
    »Nein«, antwortete sie, obwohl sie wusste, dass sie Angst haben sollte. Es war ein Traum und doch kein Traum. Sie blickte hinunter und sah ihre Hände, sie spürte die kühle Erde unter ihren nackten Füßen; aber sie spürte auch ihren anderen Körper, ihren schlafenden Körper in der Wärme unter den Decken und Fellen. Sie existierte an zwei Orten zugleich, und beide schienen gleich wirklich.
    »Wie heißt du?«, fragte er.
    Sie richtete sich gerade auf. »Ich bin Fadwa, Tochter von Jalal ibn Karim von den Hadid.«
    Er verneigte sich vor ihr ebenso feierlich, wie sie gesprochen hatte, doch mit der Andeutung eines Lächelns.
    »Was willst du von mir?«, fragte sie.
    »Ich will nur mit dir reden. Ich will dir nichts Böses. Du interessierst mich, du und deine Artgenossen.«
    Er lehnte sich auf einem großen Polster zurück und ließ sie nicht aus den Augen. Sie schaute sich überrascht um. Sie befanden sich in einem riesigen Saal aus Glas. Der Mond schien durch die geschwungenen Wände und tauchte den Boden in ein helles blausilbriges Licht. Teppiche und Schaffelle lagen verstreut darauf. Sie und der Mann saßen sich auf wunderbar gewebten Polstern gegenüber.
    »Das ist dein Palast«, sagte sie, als sie begriff. »Er ist wunderschön.«
    »Danke.«
    »Aber warum hast du mich hierhergebracht? Ich dachte, die Dschinn hätten Angst vor den Menschen.«
    Er lächelte. »Wir haben Angst, aber nur weil man es uns eingebläut hat.«
    »Auch uns bringt man bei, euch zu fürchten«, sagte Fadwa. »Nach Einbruch der Dunkelheit dürfen wir nicht pfeifen, weil man euch damit anlocken könnte. Wir stecken Amulette aus Eisen an unsere Kleider und legen Babys zum Schutz blau angemalte Eisenperlen um den Hals.«
    »Warum ausgerechnet blau?«, fragte er verwirrt.
    Sie überlegte. »Ich weiß nicht. Habt ihr Angst vor Blau?«
    Er lachte. »Nein. Blau ist eine schöne Farbe. Vor Eisen allerdings« – und er verneigte sich vor ihr mit einem leichten Senken des Kopfes – »habe ich Angst.«
    Sie lächelte amüsiert über die Doppeldeutigkeit, denn das arabische Wort für Eisen ist
hadid.
    Ihr Gastgeber – ihr Gast? – betrachtete sie. »Erzähl mir von dir«, sagte er. »Wie sieht dein Leben aus? Wie verbringst du deine Tage?«
    Die Intensität seines Blicks verwirrte sie. »Das solltest du meinen Vater fragen oder einen meiner Onkel«, sagte sie. »Ihr Leben ist viel interessanter.«
    »Das werde ich eines Tages vielleicht tun«, sagte er. »Aber jetzt interessiert mich alles. Alles ist neu für mich. Also, bitte, erzähl.«
    Er wirkte aufrichtig. Das beruhigende Mondlicht, die kuschelige Wärme ihres anderen schlafenden Körpers, die schmeichelhafte Aufmerksamkeit eines gut aussehenden Mannes – alles zusammen ließ ein behagliches Gefühl in ihr aufsteigen. Sie entspannte sich auf dem Polster und sagte: »Ich stehe früh morgens auf, bevor die Sonne aufgeht. Die Männer gehen los und kümmern sich um die Schafe, und meine Tanten und ich melken die Ziegen. Aus der Milch machen wir Käse und Joghurt. Tagsüber webe ich, flicke Kleider und backe Brot. Ich hole Wasser und sammle Feuerholz. Ich passe auf meinen Bruder und meine Cousins auf, bade sie und ziehe sie an und schaue, dass sie keinen Ärger machen. Abends helfe ich meiner Mutter mit dem Abendessen und trage es auf, wenn die Männer zurückkommen.«
    »So viele Sachen! Und wie oft machst du das?«
    »Jeden Tag«, sagte sie.
    »
Jeden
Tag? Dann gehst du nie einfach nur spazieren und schaust dir die Wüste an?«
    »Natürlich nicht!«, sagte sie, überrascht von seiner Unwissenheit. »Die Frauen müssen sich zu Hause um alles kümmern, während die Männer mit den Schafen und Ziegen herumziehen. Allerdings«, fügte sie ein wenig stolz hinzu, »lässt mein Vater mich ein paar Ziegen

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