Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
nasskalten Herbstmorgen ins Wohnheim kam, war die ganze Treppe übersät mit Flugblättern auf Jiddisch, gedruckt von einer Gruppe, die sich »Jüdische Mitglieder des republikanischen Wahlkomitees« nannte. Die Flugblätter drängten alle Juden, die etwas auf sich hielten, ihr Schicksal in die Hände von Gouverneur Roosevelt zu legen. Schließlich hatte Roosevelt die Spanier in San Juan Hill vernichtend geschlagen – und waren die Juden nicht einst von den Spaniern beraubt und aus dem Land gejagt und von spanischen Inquisitoren verfolgt worden?
Geht zur Wahl und zeigt, dass Ihr die spanische Niederlage billigt!
, forderten die Flugblätter marktschreierisch. Michael nahm sie von den rauen Steinen und wrang sie aus, bevor er sie in seinem Büro in den Papierkorb warf. Anzeigen der Synagogen konnte er dulden, aber nicht schamlosen Stimmenfang von republikanischen Eliten.
Der Herbst war schwierig gewesen für Michael. Er streckte das Budget des Wohnheims so weit wie möglich und wusste dennoch nicht, wie sie den Rest des Jahres durchstehen sollten. Kohle wurde immer teurer; das Dach war undicht, und die Decke im obersten Stock war feucht und schimmlig. Am schlimmsten war, dass sich vor kurzem ein junger Russe namens Gribow im zweiten Stock ins Bett gelegt hatte und nicht mehr aufgestanden war. Michael hatte das Gesundheitsamt gerufen, und dem Wohnheim hatten zwei Wochen Quarantäne gedroht. Letztlich hatte sich der Inspektor, der die Leiche des Einwanderers mit distanziertem Widerwillen flüchtig angesehen hatte, dagegen entscheiden – es gab keine Anzeichen von Typhus oder Cholera, und niemand erinnerte sich, dass der Mann über Beschwerden geklagt hätte. Doch in der darauffolgenden Woche war die Stimmung im Haus angespannt und düster, und Michael konnte vor Sorgen kaum schlafen. Ihm schien, als hinge das Schicksal des Wohnheims an einem seidenen Faden.
Seine Freunde bemerkten die neuen Ringe unter seinen Augen und meinten, dass sie ihn bald zu Grabe tragen müssten, wenn er so weiterarbeite. Sein Onkel wäre der gleichen Ansicht gewesen, aber Michael hatte ihn nicht mehr gesehen, seitdem er ihn mit der Frau namens Chava aufgesucht hatte. Er fragte sich bisweilen, ob er sich Sorgen machen sollte. War sein Onkel krank? Oder war etwas anderes passiert? Michael erinnerte sich an die große Frau mit der Schachtel voller Gebäck und an die liebevolle und beschützende Haltung, die sein Onkel ihr gegenüber eingenommen hatte. Konnte sie …? Und er …? Aber nein, das war lächerlich. Er schüttelte den Kopf und beschloss, demnächst nach seinem Onkel zu sehen.
Aber eins führte zum anderen, die Decke im obersten Stock drohte einzustürzen, und Michael dachte nicht mehr daran. Bis eines Morgens die Köchin des Wohnheims in Michaels Büro kam und eine Schachtel mit Mandelmakronen auf seinen Schreibtisch stellte.
»Das neue Mädchen in der Bäckerei hat gesagt, dass ich Ihnen die geben soll«, sagte sie sichtbar amüsiert. »Sie sind ein Geschenk, falls Sie das glauben können. Sie hat herausgefunden, dass ich im Wohnheim arbeite, und darauf bestanden.«
Das neue Mädchen?
Nach einem Augenblick begriff er und lächelte. Die Köchin zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Eine große Frau?«, fragte er, und die Köchin nickte. »Sie ist eine Freundin meines Onkels. Ich habe vorgeschlagen, dass sie sich wegen Arbeit an Radzin wenden soll. Damit will sie sich bestimmt bedanken.«
»Oh, bestimmt«, erwiderte sie leichthin.
»Dora, ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen. Sie ist verwitwet. Und das erst seit kurzem.«
Die Köchin schüttelte den Kopf über seine Naivität und nahm auf dem Weg hinaus ein Plätzchen aus der Schachtel.
Er legte sich eine Makrone auf die Handfläche. Sie war dick und gewölbt, fühlte sich aber federleicht an. Sie war mit Mandelblättchen rundherum wie mit Blütenblättern verziert. Er steckte sie in den Mund und war zum ersten Mal seit Wochen zufrieden.
Langsam gewöhnte sich der Golem an die Bäckerei und ihre Routinen. Der Dienst hinter der Kundentheke machte ihr nicht mehr so große Angst. Sie lernte, welche Kunden jeden Tag das Gleiche kauften, und wer es zu schätzen wusste, wenn sie die Bestellung bereits vorbereitet hatte. Sie bedachte alle mit einem Lächeln, auch wenn ihr nicht danach war. Sie orientierte sich an hundert kleinen Hinweisen und versuchte gewissenhaft, jedem genau das zu geben, was er sich von ihr wünschte. Und wenn es ihr gelang, verließen die Kunden die
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