Golem XIV
widersprechender Anschauungen und Meinungen zerrissen. Es irrt, wer der Ansicht ist, durch eine reichhaltige Proliferation neuer Ideen, und zwar solcher, die den Grundlagen des akzeptierten Wissens widersprechen, zeichneten sich eher junge Disziplinen aus wie die Ethnologie oder die Biologie und nicht so sehr die reifen und älteren wie die Astronomie und die Physik. An neuen Ideen mangelt es in keinem Bereich der Wissenschaft; es ist nur so, daß sie nicht überall auf denselben Widerstand stoßen. Die Größe dieses Widerstandes kann man übrigens nicht messen, man kann nur intuitiv sagen, das optimale Entwicklungstempo verlange einen Widerstand gegen »Neuigkeiten«, der weder zu groß noch zu klein ist. Ist er zu klein wie in der Humanistik, so entstehen statt einer dauernden Akkumulierung von Kenntnissen modische Gezeiten von Flut und Ebbe, wobei jede neue Mode sich bemüht, zur Diktatur mit verbissenen Liquidierungen zu werden, wie es mit dem Strukturalismus und seinem Verhältnis zum gesamten Erbe der traditionellen Humanistik ist (oder aber, Gott sei Dank, bereits war). Wächst jedoch der den Neuerungen entgegengesetzte Widerstand übermäßig an, wie es zu Anfang unseres Jahrhunderts in der Physik geschah, so müssen die neuen Ideen allzu lange um Anerkennung ringen, wodurch es innerhalb der bisherigen Orthodoxie zu Sterilität und Stillstand kommt. Gewöhnlich ist es so, daß die Trägheitsschwelle sogar bei fortdauerndem Widerstand gegen eine grundstürzende Konzeption überwunden wird, sobald die kumulative Kraft der Menge aus der Erfahrung abgeleiteter Tatsachen immer stärker für die Konzeption spricht. Dort, wo das Gegenexperiment (experimentum crucis) unverzüglich möglich ist, zerbricht der Widerstand am schnellsten. Dort indes, wo von einem solchen Experiment nicht die Rede sein kann wie in Kosmologie und Kosmogonie, wo den Forschern von einer höheren, durch die Eigenschaften des Erforschten festgelegte Notwendigkeit die Rolle der mehr passiven Beobachter zugewiesen ist und wo der Wahrheitsbeweis der Bevorzugung einer Gruppe langer, logischer Folgerungsketten gegenüber einer alternativen Gruppe von Folgerungsketten gleichkommt, wird die Größe des den Innovationen geleisteten Widerstandes variabel und abhängig von für diese Wissenschaft völlig nebensächlichen Faktoren. Ich kann das nicht beweisen, glaube aber, daß die Eilfertigkeit, mit der sich in jüngster Zeit viele Physiker, Astrophysiker und Mathematiker an die Arbeit über die »deduktive Phantasmagorie« der »Schwarzen Löcher« gemacht haben (man widmet ihnen Monographien, obgleich niemand bisher auch nur ein einziges mit gesicherten Methoden bemerkt hat), zusammenhängt mit der »zivilisatorischen Beschleunigung« und besonders mit der ihr eigenen Veränderlichkeit gesellschaftlicher Normen.
Ich behaupte nicht, was extra muros der Wissenschaft vorgeht, beeinflusse ihre intra muros angewandte Methode. Wäre die Relativitätstheorie erst heute entstanden, müßte sie genauso durch Experimente bewiesen werden wie vor sechzig Jahren. Ich vermute aber, daß diese Theorie, heute verkündet, nicht so lange auf die Zuerkennung des Bürgerrechts in der Wissenschaft warten müßte wie damals. Die Wissenschaftler leben nicht außerhalb der Gesellschaft, die sich an große Veränderungen bereits gewöhnt hat. Die Wissenschaft entwickelt sich großartig in Staaten, in denen sich die Sitten lockern, die traditionellen Werte vergehen und die traditionell betriebene Innenpolitik in eine permanente Krise gerät. Und das, weil man die Methoden wissenschaftlicher Erkenntnis nicht gegen andere, minder rigoristische austauschen kann, ihr Wert also von Dauer ist, während viele traditionelle Werte in der »permissiven Zivilisation« eine sinkende Tendenz aufweisen. Das kann der Grund für die scheinbar paradoxe Situation sein, daß die Welt des Westens, die in der kulturellen Dekadenz vorangeht, zugleich in der Welt der Wissenschaft vorangeht. In dieser Welt setzt die Wissenschaft neuen Ideen einen geringeren Widerstand entgegen als zu Anfang des Jahrhunderts.
Trotzdem wissen wir weiterhin nicht, obwohl das seltsam klingt, worauf eigentlich der Akt des »Verstehens neuer Ideen« beruht. Was heißt das eigentlich, im Bereich der Erkenntnis »einen neuen Gedanken verstehen«? Es genügt dafür weder die Kenntnis der Sprache, in der er formuliert ist, noch ein Universitätsdiplom. Die erste Reaktion des Menschen auf solch eine Neuigkeit ist die
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