GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit
den Blick nicht vom dunklen Fluss lösen. »Das war deine ganze Zukunft, Prinz Dummerchen.«
»Es war meine Vergangenheit. Ich habe sie in der Nacht verloren, in der meine Eltern gestorben sind.« Er zog sie wieder näher an sich. »Dafür habe ich dich gefunden, Deryn. Vielleicht war es mir nicht vorbestimmt, den Krieg zu beenden, aber dafür war es mir vorbestimmt, dich zu finden. Das weiß ich jetzt. Du hast mich davor gerettet, keinen Grund mehr zu haben, weiterzumachen.«
»Wir haben uns gegenseitig gerettet«, flüsterte Deryn. »So läuft das nämlich.«
Nach einem kurzen Blick hinüber zu den Taklern küsste sie Alek erneut. Diesmal war der Kuss länger und inniger, und sie hielten sich mit den Händen an den Seiten. Der starke Gegenwind gab ihnen das Gefühl, als würde das Schiff zu einem neuen, wunderbaren Ziel unterwegs sein, ganz allein mit ihnen an Bord.
Bei dem Gedanken wich Deryn zurück. »Aber was zum Teufel wirst du jetzt machen, Alek?«
»Ich schätze, ich muss mir eine anständige Arbeit suchen.« Er seufzte und starrte hinunter zum Fluss. »Mein Gold ist verbraucht, und vermutlich lassen sie mich nicht an Bord der Leviathan anheuern.«
»Kaiser sind überflüssig und nutzlos«, sagte Bovril.
Alek starrte das Tierchen böse an, doch Deryn musste unwillkürlich grinsen.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Ich habe auch schon daran gedacht, abzumustern.«
»Was … du willst die Leviathan verlassen? Das ist doch absurd.«
»Nicht unbedingt. Wie es der Zufall will, hat Miss Eierkopf eine passende Anstellung für mich. Ich glaube sogar, für uns beide.«
»Ein Ende mit Kuss.«
44. KAPITEL
In einer überraschenden Erklärung hat seine Durchlaucht Aleksandar von Hohenberg, vermeintlicher Thronfolger von Österreich-Ungarn, auf alle Ansprüche auf Ländereien aus der Linie seines Vaters verzichtet, darunter auch auf die Thronfolge selbst. Diese außergewöhnliche Ankündigung hat das unter dem Krieg leidende Land erschüttert, denn viele Bürger haben in dem geflohenen Prinzen ein Symbol für den Frieden gesehen.
Es ist unklar, ob Prinz Aleksandar den Thron überhaupt bestiegen hätte. Sein Anspruch beruht auf einer päpstlichen Bulle, die bislang nicht vom Vatikan bestätigt wurde und deren Echtheit vom gegenwärtigen Kaiser Franz Joseph bestritten wird. Angesichts der russischen Siege an der Ostfront ist allerdings fraglich, ob das Kaiserreich Österreich-Ungarn nach dem Weltkrieg überhaupt weiterexistieren wird.
Des Weiteren erklärte Aleksandar ebenfalls, sich von der Tesla-Stiftung zu trennen, die Geld sammelt, um die Einrichtung des verstorbenen Erfinders in Shoreham wieder aufzubauen. Die Beziehungen mit der Organisation waren stark belastet, da es zuletzt hieß, Prinz Aleksandar selbst habe die Waffe nach Teslas Tod abgestellt, da er um die Sicherheit eines Luftschiffs in der Nähe und um die Stadt Berlin gefürchtet habe. Seinem Sprecher Wildgraf Ernst Volger zufolge hat Aleksandar eine Stellung bei der Zoologischen Gesellschaft von London angenommen, einer wissenschaftlichen Einrichtung unter königlicher Schirmherrschaft, die man vor allem durch die Unterhaltung des Londoner Zoos kennt.
Es gibt wilde Gerüchte, warum der Thronfolger eines der großen Adelshäuser von Europa Erbe und Titel gegen den Posten eines Zoowärters tauscht. Doch von diesem Reporter auf dem Weg nach England befragt, antwortete Aleksandar auf die Frage lediglich: »Bella gerant alii, tu felix Austria, nube.«
Diese Worte sind der lateinische Wappenspruch der Habsburger und spielen auf die Tradition an, Einfluss durch Bündnisse und nicht durch Kriege zu erlangen. Übersetzt heißen sie: »Kriege mögen andere führen, du, glückliches Österreich, heirate.« Was das in diesem Zusammenhang zu bedeuten hat, blieb offen, allerdings darf man wohl darauf schließen, dass der junge Prinz bei neuen und mächtigen Verbündeten Trost gefunden hat.
Eddie Malone
New York World
20. Dezember 1914
NACHWORT
Goliath ist ein Roman, der in einer alternativen Weltge schichte spielt, und deshalb sind die meisten seiner Figuren, Wesen und Maschinen meine eigene Erfindung. Aber die historischen Orte und Ereignisse sind stark an die Wirklichkeit des Ersten Weltkriegs angelehnt, und einige meiner Figuren entstammen auch der Realität. An dieser Stelle folgt eine kurze Übersicht darüber, welche Teile des Romans erfunden sind und welche auf tatsächlichen Begebenheiten beruhen.
Am 30. Juni 1908 um ungefähr 7 Uhr 14
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