Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
sofort, bevor die Zeit läuft, die Zeit, während der eine Kontrolle stattfinden könnte. Tonnen von Waren bewegen sich, als wären sie Päckchen, die vom Postboten ausgeliefert werden. Auf den 1336 000 Quadratmetern Fläche und den 11,5 Kilometern Länge des Hafens von Neapel erfährt die Zeit eine erstaunliche Verdichtung. Was draußen eine Stunde dauern würde, scheint hier in kaum einer Minute möglich zu sein. Die angeblich sprichwörtliche Langsamkeit der Neapolitaner wird hier Lügen gestraft. Die chinesischen Waren unterlaufen die zeitliche Dimension, in der der Zoll seine Kontrolle durchführen kann. Rasend schnell. Eine Minute nach der anderen Minute wird hier niedergemacht. Ein Massaker von Minuten, ein Blutbad von Sekunden, der Durchsicht der Papiere entrissen, angetrieben vom Gaspedal der Lastwagen, begleitet von den Kränen und Loren, die die Container ausweiden.
Im Hafen von Neapel ist die größte staatliche Reederei Chinas tätig, die Cosco. Sie gebietet über die drittgrößte Handelsflotte der Welt und betreibt den größten Containerterminal. Sie kooperiert mit der MSC, die ihrerseits die zweitgrößte Handelsflotte der Welt besitzt und in Genf ansässig ist. Schweizer und Chinesen haben sich zusammengetan und beschlossen, den größten Teil ihrer Geschäfte in Neapel abzuwickeln. Hier verfügen sie mit mehr als neunhundertfünfzig Metern Kaimauer, hundertdreißigtausend Quadratmetern
Containerterminal und dreißigtausend Quadratmetern Außenfläche über ein Areal, auf dem fast der gesamte Verkehr von und nach Neapel abgewickelt wird. Man muß viel Phantasie aufbringen, um sich vorzustellen zu können, wie sich die ungeheure chinesische Produktion ganz auf den neapolitanischen Hafen konzentrieren kann. Ein biblisches Gleichnis drängt sich auf, der Hafen ähnelt dem Nadelöhr, durch das anstelle des Kamels Schiffe ziehen. Buge, die sich kreuzen, riesige Frachter, die in Reih und Glied draußen auf die Einfahrt in den Golf warten, beim Manövrieren das Ächzen der Hecks, der eisernen Aufbauten, der Bordwände und Bolzen, wenn sie sich in das enge neapolitanische Loch zwängen. Wie in einen Anus, dessen Schließmuskel sich unter großen Schmerzen weitet.
Doch das stimmt nicht. Es ist ganz anders. Keinerlei augenfälliges Durcheinander. Alle Schiffe laufen in ordentlicher Reihenfolge ein und aus, jedenfalls wirkt es vom Festland aus so. Dabei nehmen hundertfünfzigtausend Container pro Jahr diesen Weg. Ganze Städte voller Waren werden im Hafen aufgebaut, um gleich wieder abgebaut und weitertransportiert zu werden. Der Vorzug des Hafens liegt in seiner Durchlässigkeit, keinerlei bürokratische Verlangsamung, jede gründliche Kontrolle würde diesen Gepard des Transports in ein langsames und schwerfälliges Faultier verwandeln.
An den Piers finde ich mich nie zurecht. Der Bausan-Pier wirkt wie aus Legobausteinen übereinandergestapelt. Eine riesige Struktur, die gar keinen Raum zu haben, sondern ihn zu erfinden scheint. Eine Ecke des Piers erinnert an einen Bienenstock. Tausende seltsame Waben füllen eine ganze Wand. Es sind die Steckdosen für die Reefer-Container, die Tiefkühlprodukte transportieren und wie Schwänze an diesen Wabenwänden hängen. Alle Burger und Fischstäbchen der ganzen Welt sind in diesen eisigen Containern gestapelt. Am Bausan-Pier habe ich stets den Eindruck, ich könnte sehen, woher sämtliche für die Menschheit produzierten Dinge kommen. Wo sie die letzte Nacht verbringen, bevor sie verkauft werden.
Als stünde ich am Ursprung der Welt. Innerhalb von Stunden durchqueren diesen Hafen alle Klamotten, die die Pariser Jugend im kommenden Monat tragen wird, die Fischstäbchen, die die Bevölkerung von Brescia ein Jahr lang ernähren, Uhren für die Handgelenke der Katalanen und Seide für alle Kleider, die die Engländer für eine Saison brauchen. Es wäre interessant, irgendwo zu erfahren, nicht nur wo eine bestimmte Ware hergestellt worden ist, sondern auch, welchen Weg sie genommen hat, bis sie in die Hand des Käufers gelangt. Die Herkunft der meisten Produkte ist multipel, hybrid und Resultat von mehreren Kreuzungen. Zur Hälfte entstehen sie im Inneren Chinas, dann werden sie in irgendeinem slawischen Randstaat weiterverarbeitet, im Nordosten Italiens fertiggestellt, in Apulien oder nördlich von Tirana verpackt, um schließlich in irgendeinem europäischen Kaufhaus zu landen. Die Ware genießt eine Reisefreiheit, die keinem menschlichen Wesen je zugestanden
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