Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
belassen. Ich fragte mich, ob es trotz allem möglich war, ein glückliches Leben zu führen, oder ob es nicht besser wäre, sich gleich in den Kampf zu stürzen, ein Schnellfeuergewehr im Gürtel, einzusteigen ins Big Business, ins wirkliche Big Business, anstatt den anarchischen Traum von einem selbstbestimmten Leben weiterzuträumen. Ob ich nicht lieber Teil des Netzwerks meiner Zeit werden und alles auf eine Karte setzen sollte. Befehle erteilen und Befehle empfangen - ein Profitgeier, ein Raubtier des Kapitals, ein Samurai der Clans. Ob ich nicht lieber das Leben als ein Schlachtfeld begreifen sollte, auf dem man nicht überleben, sondern nur den Tod finden konnte, nachdem man Befehle gegeben und Kämpfe geführt hat.
Ich bin geboren im Land der Camorra, wo mehr Menschen ermordet werden als irgendwo sonst in Europa, wo Geschäftemacherei und brutale Gewalt unauflöslich miteinander verbunden sind und nur das einen Wert besitzt, was Macht verspricht. Wo man stets glaubt, die letzte Schlacht hätte begonnen. Hier gibt es keinen Augenblick des Friedens, keine Verschnaufpause in einem Krieg, in dem jedes Handeln das Ende bedeuten kann, jede Not zur Schwäche wird. Einem Krieg, in dem man sich alles erobern muß, so brutal, als würde Fleisch von den Knochen gerissen. Im Land der Camorra ist der Kampf gegen die Clans kein Klassenkampf, kein Akt der Rückeroberung von Recht und Gesetz und preisgegebenen Bürgerrechten. Dieser Kampf dient nicht der Wahrung von Ehre und Stolz, er bedeutet etwas sehr viel Essentielleres, zutiefst Körperliches. Die Operationen, mit denen die Clans ihre Macht behaupten, die Manipulationen, mit denen sie ihre Geschäfte in Gang halten, ihre Investitionsstrategien zu kennen, das bedeutet, in jeder Hinsicht verstanden zu haben, worum es heute geht, und nicht nur im Land der Camorra. Der Widerstand gegen die Clans wird zum Überlebenskampf, als könnte die eigene Existenz allein, das Essen, das man zu sich nimmt, der Mund, den man küßt, die Musik, die man hört, die Bücher, die man liest, dem Leben keinen Sinn mehr geben. Als läge der Sinn des Lebens einzig und allein im Überleben. Wissen, Verstehen und Ergründen ist daher nicht bloß eine moralische Pflicht, es ist eine Überlebensfrage. Ohne diese Selbstverpflichtung ist kein menschenwürdiges Dasein möglich.
Meine Füße versanken im Morast. Das Wasser reichte mir schon bis zu den Oberschenkeln. Meine Fersen sanken immer tiefer ein. Ein riesiger Kühlschrank trieb an mir vorbei. Ich warf mich auf ihn, klammerte mich mit beiden Armen an ihm fest und ließ mich treiben. Die letzte Szene aus Papillon ging mir durch den Kopf, jener Film nach dem Roman von Henri Charriere mit Steve McQueen in der Hauptrolle. Wie Papillon trieb auch ich auf einem Sack voller Kokosnüsse, um im Gezeitenstrom von Cayenne zu fliehen. Lächerliche Bilder, aber manchmal muß man seinen Delirien nachgeben, man hat keine Wahl, man muß sich ihnen überlassen, fertig und aus. Ich wollte schreien, mir die Lunge aus dem Leib brüllen wie Papillon, aus Leibeskräften, mit allem, was meine Kehle hergab: »Ihr verfluchten Dreckskerle, ich lebe noch!«
Inhalt (Original)
Erster Teil
Der Hafen 9 Angelina Jolie 25 Das System 49
Der Krieg von Secondigliano 74 Frauen 163
Zweiter Teil
Kalaschnikow 189 Zement 222 Don Peppino Diana 262 Hollywood 290 Aberdeen, Mondragone 308 Feuerland 337
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