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Gondeln aus Glas

Gondeln aus Glas

Titel: Gondeln aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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unterdrückte den Impuls, den Umschlag zu öffnen und einen Blick auf die Bilder zu werfen. Ob sie sehr schockierend aussahen? Eine müßige Überlegung, denn ihm blieb ohnehin keine andere Wahl, als die Bilder der Königin zu zeigen. Und Maria Sofia di Borbone, die das Blutbad miterlebt hatte, das die piemontesische Artillerie in der Festung Gaeta angerichtet hatte, würden ein paar Fotografien eines toten Kunsthändlers kaum aus dem Gleichgewicht bringen. Ob sie der Tod von Orlow schockieren würde? Auch das bezweifelte Tron. Und wenn, dann würde sich ihr Schock schnell legen – spätestens nachdem sich herausgestellt hatte, welches schmutzige Spiel der Oberst gespielt hatte.
    «Was machen wir mit dem Mann, den wir unten  im Arrest haben?», wollte Bossi noch wissen.
    Mann? Arrest? Ja, richtig. Bossi meinte den gut situierten Herrn, der unten im Arrest schmorte. Tron hatte ihn völlig vergessen. «Wir verhören ihn heute Nachmittag», sagte er. «Vielleicht hat er ja irgendetwas gesehen. Dann geben wir ihm sechs Stunden Zeit, um aus der Stadt zu verschwinden. Spaur sagte, es handelt sich um einen Fremden. Stimmt das?»
    Bossi nickte. «Der Bursche kommt aus Wien.
    Spricht aber gut Italienisch.»
    Tron gähnte. «Hat er einen Namen?»
    Bossi konsultierte stehend seine Notizen. «Er ist seit einer Woche in der Stadt und heißt Leinsdorf.»
    Ah, wie bitte? Tron riss den Kopf hoch und merkte hilflos, wie er vor den Augen des Sergente zu einer grotesken Pose der Verblüffung und des Unglaubens erstarrte. Bevor er sprechen konnte, musste er sich räuspern. «Bewohnt er eine Suite im Danieli?»
    «Hat er jedenfalls behauptet.» Bossi sah Tron erstaunt an. «Kennen Sie den Mann, Commissario?»

    Tron hoffte, dass sich seine Stimme einigermaßen normal anhörte. Er schüttelte den Kopf. «Nicht persönlich. Bringen Sie ihn hoch und behandeln Sie ihn höflich.»
    Nein – seine Stimme hatte sich nicht normal angehört. Tron lehnte sich in seinem Sessel zurück und beschloss, den fragenden Blick Bossis zu ignorieren.

42
    Leinsdorf aus der Stadt zu ekeln, wie Spaur es von ihm verlangt hatte, würde kein Problem sein, dachte Tron. Nicht unter diesen Umständen. Nach sechs Stunden Garnisonsarrest und zwei Stunden im Arrest der Questura würde Signor Leinsdorf nichts lieber tun, als ein Bad zu nehmen, anschließend seine Koffer zu packen und Venedig für ewig und immerdar aus der Liste seiner Reiseziele zu streichen. Nur: Was wurde dann aus den – wenn er die Principessa richtig verstanden hatte – unterschriftsreifen Kreditverträgen?
    Aus dem Tron-Glas? Aus seiner Heirat mit der Principessa? Aus seinem ganzen Leben?
    Nein, eine schnelle Abreise Leinsdorfs kam nicht in Frage. Andererseits war unklar, wie Spaur sich am Montag verhalten würde. Könnte er der Versuchung erliegen, seinen Widersacher noch einige Tage im Kerker der Questura schmoren zu lassen? Spaurs Reaktion war nicht vorherzusagen, und Tron bezweifelte, dass Leinsdorf nach einem Aufenthalt in den Verliesen der Questura in der Stimmung sein würde, irgendwelche Verträge zu unterzeichnen. Also musste es schnell gehen – mit der Abreise Leinsdorfs und mit den Verträgen. Ideal, wenn Leinsdorf das Lloydschiff um Mitternacht nehmen würde, nachdem er vorher die Verträge unterzeichnet hatte. Und ideal wäre natürlich auch, dachte Tron seufzend, wenn ihm einfallen würde, wie das zu bewerkstelligen war.
    Wusste dieser Leinsdorf eigentlich von seiner Existenz? Wusste er, dass die Fürstin von Montalcino enge Beziehungen zu einem Commissario unterhielt, dessen Familienname Tron lautete?
    Offenbar wusste er es nicht, denn sonst hätte er eine Bemerkung dazu gemacht, als Tron ihm fünf Minuten später seinen Namen nannte. Leinsdorf hatte auf der anderen Seite von Trons Schreibtisch Platz genommen, und seiner Miene war anzusehen, dass er sich nicht entscheiden konnte. Sollte er sich lautstark über seine Inhaftierung beschweren? Darauf hinweisen, dass er in Wien über einflussreiche Verbindungen verfügte? Oder sollte er lieber den Zerknirschten spielen und den Versuch machen, diese fatale Angelegenheit von Mann zu Mann zu regeln?
    Ohne dass es einen Grund dafür gab, hatte Tron sich Direktor Leinsdorf immer als einen schwammigen Dicken mit einer Glatze vorgestellt. In Wahrheit aber war Leinsdorf eher hager, hatte volles Haar und entsprach in keiner Weise dem Klischee eines Bankbeamten. Er trug einen gut geschnittenen hellgrauen Gehrock, einen grauen Zylinderhut,

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