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Gondeln aus Glas

Gondeln aus Glas

Titel: Gondeln aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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jetzt von ihm wissen? Ob ihn der Anblick des Mondes auch immer in eine melancholische Stimmung versetzte? Ja, natürlich. Weil ihm jetzt auch der Ehemann der kleinen Kellnerin einfiel und wie der total unerwartet … Da wurde er gleich total melancholisch. Er nickte.
    Allerdings musste er zugeben, dass sie Recht hatte.
    Der Mond war wirklich sehenswert. Der wirkte auf das Gemüt. Und die ganzen Sterne – sagenhaft! Gab es in Wien auch so viele Sterne? Hier jedenfalls bedeckten sie in unterschiedlicher Verteilung den ganzen Himmel – Myriaden von Gulden und Goldmarkstücken, die in keinen Safe der Welt passen würden. Mein Gott, dachte er, wenn er doch nur ein paar von diesen Gulden und Goldmarkstücken auf seinem Privatkonto hätte! Dann würde er jeden Abend geschäftlich unterwegs sein und hätte es nicht nötig, sich Vorträge über Sockenhalter anzuhören.
    Ob er jetzt ein paar gefühlvolle Worte zum Mond sagen sollte? Zu diesem halben Bleu de Bresse ? Oder reichte es, leise zu seufzen? Oder sollte er ihr einfach  … Geld anbieten? Auch eine Möglichkeit. Obwohl er eigentlich nicht den Eindruck hatte, dass sie zu der Sorte …
    Und da er sich nicht entscheiden konnte, beschloss er, eine Zigarette zu rauchen. Ob sie wohl etwas dagegen hätte, wenn er sich …? Nein, hatte sie nicht. Also löste er seine Hand von ihrem Arm und zündete sich eine Zigarette an.
    Im Nachhinein betrachtet, war es das Streichholz, das alles in Gang setzte. Das Streichholz trudelte herab, und bevor es erlosch, fiel ein schwacher Lichtschein auf einen blitzenden Gegenstand, der unmittelbar vor seinen Füßen lag. Natürlich hätte er diesen Gegenstand (eine Goldmünze?) einfach ignorieren können. Aber nach einer vom Himmel gefallenen Goldmünze musste man sich einfach bücken. Also tat er es – oder hätte es getan, wenn sie nicht gesagt hätte: «Lassen Sie es mich aufheben.»
    Ah, wie bitte? Seine Münze? Die er zuerst gesehen hatte? Nein, das war nicht korrekt, aber wahrscheinlich wusste sie es nicht besser. Als Kavalier blieb ihm jedenfalls nichts anderes übrig, als zustimmend zu nicken. Sie bückte sich, griff gierig nach seinem Eigentum, richtete sich wieder auf, und er sah, dass sie keine Münze, sondern eine Art Klappmesser in der Hand hielt – ein Rasiermesser. Und dann sah er, dass die Klinge voller Blut war. Das Erste, was er anschließend registrierte, war das Geräusch, mit dem das Messer zu Boden fiel, und ihre in Panik weit aufgerissenen Augen. Das Zweite war der Schrei, der aus ihrer Kehle kam. Er war schrill, hysterisch und so laut, dass es in seinen Ohren schmerzte, ihn zu hö ren.
    Sie schrie immer noch, als die beiden Sergentes einer Militärpatrouille aus dem Dunkel stürmten.
    Dass er gerade versucht hatte, seine Hand auf ihren Mund zu pressen, machte keinen guten Eindruck auf die Sergentes. Es machte auch keinen guten Eindruck, dass er in einer Blutlache stand und vor seinen Füßen ein Rasiermesser lag. Und was die Sergentes danach entdeckten, machte einen geradezu verheerenden Eindruck. Als sie ihm den Arm auf den Rücken drehten, fragte er sich, was es ihn wohl kosten würde, diese Geschichte unter der Decke zu halten.

41
    Die Nachricht Bossis erreichte Tron beim Frühstück mit der Contessa. Das Frühstück, eingenommen im Gobelinzimmer, der sala degli arazzi, hatte aus ein paar harten Weißbroten, dünnem Kakao und einem längeren Vortrag der Contessa über die Vorzüge des Pressglases bestanden – gehalten mit der augenrollenden Inbrunst einer Konvertitin. Glaubte man den Worten der Contessa, dann war praktisch alles aus Pressglas herzustellen. Selbstverständlich zu minimalen Kosten. Die Profite würden exorbitant sein, der Kakao im Palazzo Tron dann so dick, dass der Löffel in ihm stand, und Alessandro (der gerade wässrigen Kakao nachgeschenkt hatte) würde ganze Regimenter von uniformierten Dienern kommandieren. Tron war aufgefallen, dass das Vokabular der Contessa in den letzten Monaten immer militärischer geworden war.
    Wenn die Contessa augenrollend über Glas sprach (und sie sprach praktisch über nichts anderes mehr), redete sie wie ein General, der gerade im Begriff war, eine Schlacht auszufechten. Es ging nicht darum, Gläser und Vasen zu verkaufen, sondern einen Zangenangriff zu organisieren, in dem die Konkurrenz ausblutete. Wie hatte sie vor ein paar Tagen zu ihm bemerkt? Ja, richtig. Märkte erobern heißt Krieg führen.
    Im Vestibül salutierte Sergente Valli, ohne Tron anzusehen

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