Gondeln aus Glas
den er vorher noch nie betreten hatte. Zehn Minuten würde es bis zu ihrer Wohnung dauern, hatte sie gesagt, aber ihm erschien es so, als liefen sie mindestens schon eine halbe Stunde durch immer wieder neue Calles und Campiellos.
Ob sie ihn wohl in ihre Wohnung bitten würde?
Er bezweifelte es. Wenn nicht, wäre das allerdings durchaus keine Katastrophe, denn seine Abreise war erst für die übernächste Woche geplant, und erfahrungsgemäß brauchte er drei Vorbereitungstreffen, um ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen. Er rechnete damit, dass er irgendwann in der nächsten Woche ihre Wohnung besichtigen durfte – mit allem Drum und Dran.
Heute Morgen im Hotel hatte es bereits vor dem Frühstück einen hässlichen Streit gegeben. Ob er denn gedenke, hatte sie ihn gefragt, in Sockenhaltern am Frühstückstisch zu sitzen, wenn serviert werde?
Es verstand sich von selbst, dass es bei diesem Streit nicht um die Sockenhalter gegangen war. Die Sockenhalter waren – wie sagte man? – lediglich die Spitze eines Eisberges. Der Eisberg selbst war das Misstrauen, das sie ihm in letzter Zeit immer unverhohlener entgegenbrachte. Als ob ein Mann in seiner Position es vermeiden konnte, auch hin und wieder abends einen geschäftlichen Termin wahrzunehmen.
Natürlich hatten sich diese speziellen geschäftlichen Termine – das musste er zugeben – in den letzten beiden Jahren ein wenig gehäuft, und er hatte jetzt immer öfter das Gefühl, als würde sie regelrecht darauf lauern, einen Beweis für seine Untreue in Händen zu halten. Und das wäre äußerst fatal für ihn. Weil ihr Vater, der ihn immer schon für einen Mitgiftjäger gehalten hatte, keine Sekunde zögern würde, ihn … Mein Gott, er durfte gar nicht daran denken.
Dabei stimmte es nicht, dass er sie damals nur ihres Geldes wegen geheiratet hatte. Als leidenschaftlichen Kavalleristen hatte ihn ihre äußere Erscheinung zunächst durchaus angezogen: ihr kräftiger Knochenbau, ihr melancholisches, an edle Pferde erinnerndes Gesicht, ihr wieherndes Lachen und ihre mahlende Art zu kauen, so als würde sie den Mund voller Hafer haben. Nur dass der Zauber des Anfangs rasch verflogen war und mittlerweile andere Dinge störend in den Vordergrund getreten waren: ihre Angewohnheit, mit einem schlürfenden Geräusch an ihren großen Schneidezähnen zu saugen, ihr penetrantes Schnarchen, die Cognacs vor dem Mittagessen, ihre ständigen Nörgeleien wegen seiner Sockenhalter. Und seit einiger Zeit dieses krankhafte Misstrauen.
Ah, wie? Was hatte sie eben gesagt? Aha, nach links also. Er lächelte galant, und sie bogen in eine weitere, dunkle Calle ein, überquerten einen Campiello und gelangten schließlich auf eine schmale Fondamenta, die von zweistöckigen, selbst in der Dunkelheit ärmlich aussehenden Häusern gesäumt wurde. Ihre Schultern hatten sich bisweilen – zufällig? – berührt, was jedes Mal ein prickelndes Gefühl in seiner Magengrube ausgelöst hatte. Natürlich, dachte er, könnte er sie auch einfach an sich reißen und sie küssen. So wie er es mit der kleinen Tänzerin vom Tschechischen Nationalballett gemacht hatte.
Oder war es die Logenbeschließerin aus dem Budapester Opernhaus gewesen? Die Rothaarige mit dem Sprachfehler? Nein, die hatte ihm eine gescheuert.
Also war es in Prag gewesen, wo sich diese Methode als außerordentlich erfolgreich erwiesen hatte, nach einer sehr schönen Aufführung der … Wie? Jetzt hatte sie etwas gesagt, was er nicht verstanden hatte.
Ob er was? Ob er Lust habe, die paar Schritte zur Lagune zu gehen, um den Mond zu betrachten, wollte sie wissen. Er nickte. Ja, sicher. Na, wenn sich das nicht verheißungsvoll anhörte. Obwohl eine Brücke mit gefährlichen Stufen noch nicht einmal in Sicht war, ergriff er ihren Arm, so als wäre es nötig, ihr über das völlig ebene Pflaster zu helfen. Das war keineswegs erforderlich, aber sie schüttelte seine Hand nicht ab, was ebenfalls ein gutes Zeichen war.
Sie überquerten eine kleine Brücke, was ihm die Gelegenheit gab, den Druck seiner Hand zu verstärken. Dann wandten sie sich nach links und standen nach ein paar Schritten an einer Art Kaimauer, hinter der die nördliche Lagune lag. Der Mond – la luna – hing bleich und käsig über dem Wasser und erinnerte ihn an einen durchgeschnittenen Bleu de Bresse, somit an seinen letzten Aufenthalt in Paris und an die kleine Kellnerin aus dem Moulin de la Galette, die sich erstaunlich leicht … Wie bitte? Was wollte sie
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