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Gondeln aus Glas

Gondeln aus Glas

Titel: Gondeln aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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auf dem Schemel, auf dem seine Frau erdrosselt worden war, und starrte dorthin, wo noch vor einer halben Stunde ihre Leiche gelegen hatte. Die drei großen Cognacs, die er in sich hineingeschüttet hatte, schienen ihn langsam aus seiner Erstarrung zu lösen.
    «Also weiß niemand», sagte er zu dem Cognac glas, das er in der Hand hielt, «was passiert ist.» Er ließ die Flüssigkeit im Glas kreisen, und Tron sah, wie der kleine Cognacspiegel das Licht der Petroleumlampe reflektierte, die dicht neben dem Kopf Potockis auf der Notenablage des Flügels stand. Bis auf Bossi, der schweigend an der Wand Platz genommen hatte, waren sie allein in der sala.
    Potocki war kurz nach zehn Dr. Lionardo und  den beiden Leichenträgern im Treppenhaus begegnet. Er hatte nicht den Wunsch geäußert, das weiße Leichentuch zu entfernen, um seine Frau noch einmal zu sehen, sondern stattdessen einen Cognac verlangt. Den hatte ihm Bossi höchstpersönlich gebracht – zusammen mit der ganzen Flasche, denn Potocki hatte mit starrer Miene angedeutet, dass er unter diesen Umständen gezwungen sein würde, etwas mehr als nur ein Glas zu trinken. Dies alles ergab nicht das Bild eines untröstlichen Witwers, aber Tron wusste, dass viele Menschen auf den Schock einer Todesnachricht ausgesprochen bizarr reagieren konnten.
    Zuerst kam in der Regel eine kurze Phase des Unglaubens, angetrieben von dem verzweifelten  Wunsch, es würde irgendein absurdes Missverständnis vorliegen. Bis sich dann das Begreifen einstellte, dass dies kein Albtraum, sondern die Wirklichkeit war. Danach folgte – je nach Temperament – ein Zusammenbruch oder ein Erstarren.
    Potocki war erstarrt, und noch immer lag der  Schock wie eine hölzerne Maske über seinen Zügen.
    Den Weg in die sala hatte er mit den trippelnden Schritten eines Greises zurückgelegt, so als wäre er in wenigen Sekunden um ein paar Jahrzehnte gealtert.
    «Dass der Täter den Palazzo durch das Treppenhaus verlassen hat, ist auszuschließen», sagte Tron.
    «Und über den Altan auf dem Dach konnte er auch nicht entkommen. Signora Kinsky hat mir gesagt, der Steg zwischen den beiden Altanen sei morsch und es sei lebensgefährlich, ihn zu benutzen.»
    Potocki trank einen Schluck Cognac, rollte ihn im Mund herum und schluckte. Dann streckte er die Beine aus und lehnte den Rücken gegen die Tastatur des Erard, was einen scharfen, dissonanten Akkord erzeugte. «Sie hat gelogen», sagte er, ohne Tron anzusehen.

    «Wie?»
    Potockis Gesicht verzog sich zu einer Fratze, die vielleicht ein zynisches Lächeln bedeuten sollte.
    «Dieser Steg wurde benutzt», sagte er. «Und zwar ziemlich häufig.»
    «Von Signora Kinsky?»
    Potocki schüttelte den Kopf. «Von Konstancja.»
    Er hielt inne und verschränkte die Arme vor der Brust, um einen Moment nachzudenken. «Sie wissen, wer nebenan im Palazzo Contarini wohnt?»
    «Die Troubetzkoys. Aber ich kann Ihnen immer  noch nicht folgen.»
    Potocki lächelte traurig. «Es ist ganz einfach, Commissario.» Er starrte bewegungslos auf das neue Übungsklavier seiner Frau, neben dem Bossi reglos auf einem Stuhl hockte. «Konstancja und der Groß fürst», sagte Potocki schließlich mit einer Stimme, die sich immer noch erstaunlich deutlich anhörte, «haben sich vor vier Jahren in St. Petersburg kennen gelernt. Nach einem Konzert, das Konstancja in Zarskoje Selo gegeben hat. Und als wir nach Venedig gezogen sind – zufällig neben die Troubetzkoys – , haben sie ihre Bekanntschaft erneuert.»
    «Erneuert?»
    Potocki sah Tron ungeduldig an. «Wiederaufge nommen und intensiviert.»
    Tron runzelte die Stirn. «Wollen Sie damit sagen, dass Signora Potocki und der Großfürst ein Verhältnis hatten?»
    Potocki schwieg und fixierte das Glas in seiner Hand, so als würde ihm etwas entgleiten und in ein Flussbett absinken, bis auf den tiefen Grund. Schließ lich sagte er leise: «Es gibt im Dachgeschoss des Palazzo Contarini eine unbenutzte Wohnung, die einen Zugang zum Altan hat.»
    «Und in dieser Wohnung …»
    Potockis Lächeln war nur eine Lippenbewegung.
    Seine Stimme und seine Augen blieben davon unberührt. «Hat meine Frau den Großfürsten besucht. Ich glaube, sie hatten noch irgendwo anders ein Nest, aber das kann ich nur vermuten.»
    «Seit wann wussten Sie, dass Ihre Frau ein Verhältnis mit Troubetzkoy hatte?»
    «Vom ersten Tag an. Konstancja hat nie ein Hehl daraus gemacht. Vielleicht war ja alles meine Schuld.»
    «Weil Sie Ihre Frau betrogen haben?»
    «Wer

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