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Gondeln aus Glas

Gondeln aus Glas

Titel: Gondeln aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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ungegürtet an ihr herunterhing wie ein Kartoffelsack. Auf ihren streng und reizlos in der Mitte gescheitelten Haaren, die wie angeklatscht auf ihrer Stirn lagen, saß eine altjüngferliche weiße Haube, die an das Habit einer Nonne erinnerte. Dazu passte das große Kreuz aus Ebenholz, das an einer langen Halskette baumelte, und ihre Angewohnheit, es in regelmäßigen Abständen mit weißen Knöcheln zu umklammern und gegen ihre Brust zu pressen – mit einem gequälten Gesichtsausdruck, als würde sie sich auch noch für ihre Liebe zu Christus, dem Herrn und Erlöser, entschuldigen müssen.
    «Und wenn eine zweite Person die Treppe benutzt hätte», fuhr Anna Kinsky gesenkten Blickes fort, «dann wäre ich ihr begegnet.» Die Pause, die sie machte, brachte ihre Entschuldigung darüber zum Ausdruck, dass sie niemanden auf der Treppe gesehen hatte. «Die beiden Mädchen», fuhr sie leise fort,  «waren unten in der Küche. Sie dürfen tagsüber nicht in ihre Kammern. Dort gibt es keine Klingeln. Sie wären also nicht erreichbar.» Sie nickte, wobei ihr Kopf noch ein Stückchen nach unten sackte und man den Eindruck haben konnte, als hätte sich an ihrem Nacken eine Befestigung gelöst. «Außerdem war ja niemand hier unter dem Dach.»
    «Und der hölzerne Steg, der zum Altan des Palazzo Contarini führt? Hätte der Mörder ihn als  Fluchtweg benutzen können?»
    Tron sah, wie die gesenkten Lider Anna Kinskys einen Moment lang zuckten, so als würde sie den Sinn seiner Frage nicht verstehen. Dann sagte sie langsam: «Der Steg ist noch nie benutzt worden. Ich glaube, er ist morsch.»
    «Wird der Altan benutzt?»
    Bei dem Wort Altan verstummte Anna Kinsky einen Moment. Schließlich sagte sie mit verlegener Stimme: «Manchmal hängen wir dort Wäsche auf. Aber  meistens lasse ich die Wäsche von den Mädchen auf den Trockenboden bringen.»
    Das Wort Wäsche in diesem Zusammenhang auszusprechen fiel ihr sichtbar schwer, so als wüsste sie, dass venezianische Altane in alten Zeiten von – mit wenig Wäsche bekleideten – Kurtisanen benutzt wurden, um dort in der Sonne ihre Haare zu bleichen.
    Tron hielt es für besser, das Thema zu wechseln.

    «Wissen Sie, wo sich Signor Potocki jetzt aufhält, Signora Kinsky?»
    Anna Kinsky sah Tron erschrocken an und schüttelte hastig den Kopf. «Nein.»
    Tron musste unwillkürlich lächeln. Sie war eine miserable Lügnerin. «Signora Kinsky», sagte er geduldig. «Alles, was Sie mir anvertrauen, bleibt unter uns. Wenn Sie mir etwas mitteilen, das Sie lieber für sich behalten hätten, wird niemand davon erfahren.»
    Anna Kinsky schwieg einen Augenblick, offenbar um darüber nachzudenken, ob sie ihm vertrauen konnte oder nicht. Als sie sprach, war ihre Stimme so leise, dass Tron Mühe hatte, sie zu verstehen. Sie sagte: «Signor Potocki geht zu … Frauen.»
    Tron runzelte die Stirn. «Zu welchen Frauen?»
    «Immer zu … verschiedenen Frauen.» Ihre Ober lippe zitterte heftig.
    «Sie meinen, zu Frauen, die …»
    Anna Kinsky nickte. Es war klar, was sie meinte.
    «Wusste Signora Potocki davon?»
    «Sie wusste es, und sie hatten deswegen viel Streit miteinander. Er hat Konstancja sehr schlecht behandelt.» Anna Kinsky atmete heftig ein, und einen Moment lang war sich Tron sicher, dass sie in Trä nen ausbrechen würde. Doch stattdessen sagte sie etwas, was Tron nicht gewusst hatte. Sie sagte: «Konstancja war meine Cousine. Sie hat dafür gesorgt, dass ich nach dem Tod meines Mannes … hier unterkam. Und das gefiel ihm nicht.»
    «Soll das bedeuten, dass Signor Potocki mit Ihrer Anwesenheit im Palazzo Mocenigo nicht einverstanden war?»
    Anna Kinsky schüttelte heftig den Kopf. «Zuerst war er sehr einverstanden. Er hat mir auch viele schöne … Geschenke gemacht.» Selbst im Schein der fahlen Petroleumlampe, die an der Decke des kleinen Flurs hing, war zu erkennen, dass Anna Kinsky über und über rot wurde. «Aber dann …» Sie rang nach Luft und schloss die Augen.
    «Reden Sie weiter, Signora Kinsky», sagte Tron geduldig.
    «Hat er mich eines Abends hier auf diesem Flur
    … so angesehen», flüsterte sie.
    So angesehen? Vermutlich meinte sie etwas anderes, fand aber nicht den Mut, es auszusprechen. Tron beschränkte sich darauf, in zurückhaltendem Ton zu fragen: «Und was haben Sie getan, als er Sie … so angesehen hat?»
    «Ich habe geschrien», sagte Anna Kinsky mit überraschender Heftigkeit. «Seit diesem Tag hat er mich gehasst. Und jetzt, wo Signora Potocki tot ist,

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