Gone Girl - Das perfekte Opfer: Roman (German Edition)
eine Spielwelt, in der ich Amys breitschultriger Held sein durfte, der ihre Ehre verteidigte. Amy war zu unabhängig, zu modern, um die Wahrheit zuzugeben: Sie wollte gern die Jungfrau in Not spielen.
»In letzter Zeit?«
»Nein, das nicht«, antwortete Marybeth und kaute auf der Unterlippe. »Aber in der Highschool gab es ein schwer gestörtes Mädchen.«
»Wie gestört?«
»Sie war besessen von Amy. Na ja, von Amazing Amy . Hilary Handy war ihr Name – und sie hat sich immer als Amys beste Freundin im Buch, als Suzy, stilisiert. Zuerst war es irgendwie nett. Aber dann hat das nicht mehr gereicht, und auf einmal wollte sie Amazing Amy sein, nicht mehr Suzy, der Sidekick. Also hat sie angefangen, unsere Amy nachzumachen. Sie hat sich wie Amy gekleidet, sich die Haare blond gefärbt und sich vor unserem Haus in New York rumgetrieben. Einmal ist sie auf der Straße zu mir gerannt, dieses fremde Mädchen, hat sich bei mir untergehakt und gesagt: ›Jetzt bin ich Ihre Tochter. Ich werde Amy umbringen und Ihre neue Amy sein. Weil das für Sie keine Rolle spielt, stimmt’s? Solange Sie nur irgendeine Amy haben.‹ Als wäre unsere Tochter eine austauschbare Fiktion, die sie einfach umschreiben konnte.«
»Schließlich haben wir eine richterliche Verfügung erwirkt, weil sie Amy in der Schule die Treppe runtergestoßen hat«, erzählte Rand weiter. »Ein schwer gestörtes Mädchen. Diese Mentalität lässt sich nie ganz verändern.«
»Und dann Desi«, warf Marybeth ein.
»Ja, Desi«, bestätigte Rand.
Sogar ich kannte die Geschichte von Desi. Amy war auf einem Internat in Massachusetts gewesen, der Wickshire Academy – ich hatte die Fotos gesehen, Amy in Lacrosse-Rock und mit Stirnband, immer Herbstfarben im Hintergrund, als wäre die Schule nicht in einer Stadt, sondern in einem Monat angesiedelt. Oktober. Desi Collings besuchte das Jungen-Internat, das mit Wickshire verbunden war. In Amys Erzählungen war er eine blasse romantische Figur, und ihre Freundschaft typisch für Internate: fröstelnde Football-Spiele, überhitzte Tanzveranstaltungen, Fliedersträußchen, Fahrten im Oldtimer-Jaguar. Alles ein bisschen altmodisch.
Ein Jahr lang ging Amy mit Desi aus, ganz ernsthaft. Aber dann begann sie, ihn bedrohlich zu finden: Er redete mit ihr, als wären sie verlobt, er kannte die Anzahl und das Geschlecht ihrer zukünftigen Kinder. Vier Kinder würden sie zusammen haben, alles Jungen. Was verdächtig nach Desis eigener Familie klang, und als er seine Mutter mitbrachte, damit sie Amy kennenlernte, wurde Amy ganz flau im Magen, so erstaunlich war die Ähnlichkeit zwischen ihr und Mrs. Collings. Die Dame küsste sie kühl auf die Wange und murmelte ihr ungerührt ins Ohr: »Na, dann viel Glück.« Amy wusste nicht, ob das eine Warnung oder eine Drohung sein sollte.
Nachdem Amy sich von Desi getrennt hatte, trieb er sich weiter auf dem Campus von Wickshire herum, eine gespenstische Erscheinung im dunklen Blazer, an winterlich kahle Eichen gelehnt. Als Amy in einer Februarnacht von einem Ball zurückkam, fand sie ihn in ihrem Bett, nackt auf der Decke, etwas benommen von einer geringfügigen Pillen-Überdosis. Kurz darauf verließ Desi die Schule.
Aber er rief immer noch an, sogar jetzt, und mehrmals im Jahr schickte er dicke Polsterumschläge, die Amy ungeöffnet wegwarf, allerdings nie, ohne sie mir vorher zu zeigen. Sie waren in St. Louis abgestempelt. Vierzig Minuten entfernt. »Das ist bloß ein blöder Zufall«, hatte sie mir immer gesagt. Desi hatte mütterlicherseits Familienbeziehungen in St. Louis. Das wusste Amy, aber mehr wollte sie nicht erfahren. Einmal fischte ich einen mit Sahnesauce verklebten Brief aus dem Müll und las ihn. Er war total banal: Tennis, Reisen und andere adrette Themen. Spaniels. Ich versuchte, mir diesen dünnen Dandy vorzustellen, einen Typen mit Fliege und Hornbrille, wie er in unser Haus einbrach und Amy mit seinen weichen, manikürten Fingern packte. Wie er sie in den Kofferraum seines Oldtimers warf und sie entführte … nach Vermont. Desi. Konnte irgendjemand glauben, dass es Desi war?
»Desi wohnt nicht weit von hier«, sagte ich trotzdem. »In St. Louis.«
»Na siehst du«, sagte Rand. »Warum kümmern sich die Cops nicht darum?«
»Irgendjemand sollte sich darum kümmern«, entgegnete ich. »Ich fahre hin. Gleich morgen, nach der Suche.«
»Die Polizei denkt jedenfalls definitiv, dass es … jemand aus dem engen Umfeld war«, sagte Marybeth. Sie sah mich
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