GONE Verloren
Plätschern der Wellen herrschte Totenstille. »Das klingt verrückt, aber mir kommt es so vor, als wäre die Horizontlinie höher als sonst.«
»Habt ihr den Sonnenuntergang gesehen?«, fragte Sam.
Quinn und Astrid verneinten.
Die Straße wand sich vom Ufer weg und schlängelte sich hinauf zum Clifftop Hotel. Das Neonschild der Anlage leuchtete zwischen sorgfältig getrimmten Hecken am Straßenrand und der eindrucksvolle Haupteingang erstrahlte wie zu Weihnachten – die Hotelleitung hatte die weißen Lichterketten früh aufgehängt.
Vor dem Eingang parkte ein Auto. Die Heckklappe war geöffnet, unmittelbar daneben befand sich der mit Koffern beladene Wagen des Gepäckträgers.
Als sie näher kamen, schwangen die Türen automatisch auf. Sie betraten eine große Lobby mit einem langen und gebogenen Empfangstresen aus poliertem hellem Holz, einem glänzenden Fliesenboden und schimmernden Messingverzierungen, die in eine schummrige Bar führten. Einer der Fahrstühle stand offen.
»Ich sehe niemanden«, flüsterte Quinn.
Es war auch niemand da. In der leeren Lobby herrschte eine gespenstische Stille. Es erschien kein Portier, niemand saß an der Rezeption oder der Bar. Ihre Schritte hallten auf den Fliesen.
»Zum Tennisplatz müssen wir da lang«, sagte Astrid und ging voraus. »Wenn, dann wären meine Mom und der kleine Pete dort gewesen.«
Die Plätze waren beleuchtet. Es war kein einziger Laut zu vernehmen.
Sie sahen es alle gleichzeitig.
Über die Längsseite des hintersten Tennisplatzes, quer durch den gepflegten Landschaftsgarten und mitten durch den Swimmingpool lief eine Barriere. Eine leicht schimmernde Wand.
Sie war nicht ganz undurchsichtig. Ein schwaches Licht drang von der anderen Seite hindurch. Die Wand spiegelte leicht, so als würden sie auf eine Milchglasscheibe blicken. Von draußen kam kein Laut, vielmehr schien diese seltsame Grenze jedes Geräusch zu verschlucken.
Sie wirkte unendlich hoch, verblasste aber vor dem Hintergrund des nächtlichen Himmels, während sie sich beiderseits so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Nur ganz weit oben funkelten Sterne, die anderen wurden von der Barriere verdeckt.
»Was ist das?«, fragte Quinn beinahe ehrfürchtig.
Astrid schüttelte bloß den Kopf.
Sie gingen auf die Barriere zu, langsam und auf der Hut, aber doch von dem Wunsch getrieben, sie aus der Nähe zu betrachten.
Sie betraten den durch Maschendraht abgegrenzten Tennisplatz und überquerten ihn. Die Barriere schnitt mitten durch das Netz, dessen zweite Hälfte in ihrem schimmernden Weiß verschwand.
Sam griff nach dem Netz. Als er vorsichtig daran zog, fühlte es sich starr und unbeweglich an. Er übte mehr Kraft aus, doch sosehr er an ihm zerrte, es ließ sich keinen Millimeter weit herüberziehen. Er legte die letzten drei Schritte zur Barriere zurück und berührte sie mit den Fingerspitzen.
»Auuu!« Seine Hand schnellte zurück.
»Was?«, schrie Quinn.
»Das brennt! Mann, tut das weh!« Sam wedelte mit der Hand, als könnte er so den Schmerz abschütteln.
Astrid nahm seine Hand und drehte sie hin und her.
Trotz allem, was passiert war, durchfuhr ihn ein angenehmer Schauer. Ihre Hand war kühl.
»Ich sehe keine Brandwunde«, sagte sie.
»Nein, aber glaub mir, du willst das Ding nicht anfassen.«
Quinn holte sich einen Stuhl von der Seitenlinie. Er war aus Schmiedeeisen und schwer. Quinn hob ihn mit beiden Händen über seinen Kopf, nahm Anlauf und ließ ihn mit den Beinen voran gegen die Mauer krachen.
Sie gab nicht nach.
Er schlug noch einmal zu, diesmal so fest, dass er durch den Rückprall ins Stolpern geriet.
Nichts tat sich.
Plötzlich fing Quinn zu schreien an und drosch fluchend auf die Barriere ein, immer und immer wieder.
Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte Sam Quinn nicht aufhalten können, ohne selbst getroffen zu werden. Er berührte Astrid am Arm. »Lass ihn.«
Quinn schleuderte den Stuhl ein ums andere Mal gegen die Barriere. Er hinterließ nicht die geringste Spur.
Schließlich ließ er ihn fallen, setzte sich auf den Asphalt, legte den Kopf in seine Hände und weinte wie ein kleines Kind.
Sieben
289 Stunden, 45 Minuten
Lana lag auf dem Erdboden und starrte zum Sternenhimmel. Um sie herum war alles finster.
Sie hatte Angst. Angst zu sterben. Angst, ihre Eltern nie mehr wiederzusehen. Ihre Mom und ihren Dad, die wahrscheinlich noch gar nicht wussten, dass sie einen Unfall gehabt hatte. Sie riefen jeden Abend bei Grandpa Luke an und
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