GONE Verloren
nicht.
»Clifftop ist wahrscheinlicher«, sagte Astrid. »Würdet ihr mich dorthin begleiten?«
»Jetzt?«, fragte Quinn ungläubig. »Mitten in der Nacht?«
Sam zuckte die Achseln. »Besser als hier rumzusitzen. Vielleicht funktioniert ja dort ein Fernseher.«
Quinn seufzte. »Im Clifftop soll’s gutes Essen geben.« Er streckte eine Hand aus und ließ sich von Sam auf die Beine ziehen.
Sie bahnten sich einen Weg an den dicht beieinandersitzenden Kids vorbei. Einige riefen Sam etwas zu; andere wollten wissen, was passiert war, was sie tun sollten. Immer wieder fiel sein Name. Er schnappte einige Gesprächsfetzen auf: »Ich war damals auch in dem Bus.« Und: »Mann, ist einfach in das Gebäude gerannt.« Und: »Siehst du, er sagt, es wird alles okay.«
Der Krampf in seinem Bauch wurde schlimmer. Die kühle Nachtluft würde ihm guttun. Außerdem wollte er von diesen verängstigten Kindern weg, die ihn mit großen Augen ansahen, Erwartungen in ihn setzten.
Sie näherten sich Orcs Lager unter der Ampel. Das Feuer spuckte und zischte und schmolz ein Loch in den Asphalt. Aus einer mit Eis gefüllten Kühltasche ragte ein Sechserpack Bier. Einer aus Orcs Crew, ein Riesenkerl mit Babygesicht und dem Spitznamen Cookie, war grün im Gesicht. Er starrte benommen vor sich hin.
»Hey, wo wollt ihr hin?«, rief Howard ihnen zu.
»Spazieren gehen«, sagte Sam.
»Zwei doofe Surfer und ein Genie?«
»Ganz richtig. Wir wollen Astrid das Surfen beibringen. Was dagegen?«
Howard lachte und musterte Sam von oben bis unten. »Du denkst, du bist der große Macker, was? Schulbus-Sam. Mich beeindruckst du nicht.«
»Echt nicht, Howard? Dabei besteht mein ganzer Lebensinhalt allein darin, dich zu beeindrucken.«
Howard setzte eine schlaue Miene auf. »Ihr müsst uns was mitbringen.«
»Was soll das heißen?«
»Ich möchte nicht, dass Orcs Gefühle verletzt werden«, antwortete Howard. »Ich weiß zwar nicht, was ihr vorhabt, aber ich finde, dass ihr ihm was mitbringen solltet.«
Orc lümmelte breitbeinig in einem der geplünderten Stühle und schien nur am Rande zuzuhören. Doch als er jetzt den Mund auftat und »genau« grunzte, interessierten sich auf einmal noch ein paar aus seiner Crew für Sam. Ein großer, magerer Junge, der Panda genannt wurde, weil er so dunkle Ringe unter den Augen hatte, klopfte mit seinem Metallschläger drohend auf den Asphalt.
»Du bist also ’n großer Held, was?«, sagte Panda.
»Der Spruch ist langsam ausgelutscht«, erwiderte Sam.
»Aber nein, doch nicht Sammy!«, höhnte Howard. »Er würde nie denken, was Besseres zu sein als wir.« Er parodierte Sam während des Brandes. »Holt einen Schlauch, bringt die Kinder raus, macht dies, macht jenes, ich hab hier das Sagen, ich bin Sam, der Supersurfer.«
»Wir gehen jetzt«, sagte Sam.
»Na, na, na!«, rief Howard und deutete mit einer übertriebenen Geste zur Ampel. »Erst, wenn es grün ist.«
Einen angespannten Moment lang war Sam unschlüssig, ob er sich jetzt gleich auf diesen Kampf einlassen sollte, doch dann schaltete die Ampel um und Howard winkte sie lachend durch.
Sechs
290 Stunden, 7 Minuten
Eine Zeit lang sagte keiner von ihnen etwas.
Sie gingen durch die immer leerer und dunkler werdenden Straßen und gelangten schließlich zur Strandpromenade.
»Die Brandung klingt merkwürdig«, meinte Quinn.
Sam lauschte aufmerksam. Der Rhythmus klang irgendwie anders als sonst, aber sicher war er sich dessen nicht.
Von der üblichen Geräuschkulisse war nichts mehr da: kein Läuten der Telefone, kein Brummen der Autos und keine gedämpften Stimmen aus den Häusern. Dafür konnten sie jeden ihrer Schritte und Atemzüge hören.
Sam spähte zu den Hügeln hinauf. Er kniff die Augen leicht zusammen, um die Lichter der Stadt auszublenden. Manchmal, wenn auf dem Sportplatz der Coates Academy die Flutlichter angeschaltet waren, war in der Ferne ein flimmerndes Leuchten zu sehen. Doch an diesem Abend war es rund um die Schule stockfinster.
Ein Teil von Sam wollte nicht wahrhaben, dass seine Mutter nicht mehr da sein sollte. Ein Teil von ihm wollte daran glauben, dass sie wie jede Nacht dort oben ihren Dienst verrichtete.
»Die Sterne sind noch da.« Astrid hatte den Blick zum Himmel gerichtet. »Nein, schaut mal! Wo sind denn die, die normalerweise knapp über dem Horizont stehen? Die Venus sollte eigentlich gerade untergehen. Ich sehe sie nicht.« Sie blieben stehen und starrten aufs Meer. Bis auf das merkwürdig sanfte, regelmäßige
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