Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Sporttasche aus dem Haus geschossen.
»He, wo willst du denn hin?«, fragte ich auf Chinesisch.
»Ich hab doch Baseballtraining! Mama, ich komme sowieso schon zu spät!« Sein Chinesisch war ausgezeichnet, wenn auch nicht ganz so perfekt wie sein Englisch. Jasons Gesicht war dem seines Vaters so ähnlich, dass Matt ihn sofort erkannt hätte, wenn er das Foto in meinem Büro gesehen hätte: die goldenen Augen, die buschigen Augenbrauen, sogar die Haarsträhne, die ihm permanent ins Gesicht fiel.
Er zog bereits sein Fahrrad vom Fahrradständer, aber ich rief: »Jason!«
»Ich muss los.«
»Du hast unser Abschiedsritual vergessen.«
Er zögerte kurz und rannte dann zu mir zurück. »Dafür bin ich doch viel zu alt!«
»Komm schon.« Ich legte Helm und Handschuhe ab und ließ Matts Kette in meine Jackentasche gleiten.
Dann wechselten wir ins Englische und sangen zusammen: »Piep, piep, piep, ich hab dich schrecklich lieb!« Wir klatschten
uns ab. »Einen schönen Tag wünsch ich dir, wir sehn uns später hier!«
Er umarmte mich fest und küsste mich auf die Wange. Während er die Straße hinunterradelte, winkte er mir noch einmal zu und rief: »See you later, alligator!«
In unserem geräumigen Wohnzimmer war Mama gerade dabei, das Klavier abzustauben. Die Staubpartikel hingen noch in der Luft. Sie war inzwischen Mitte fünfzig, aber immer noch schön. Ich blieb in der Tür stehen und schaute ihr zu.
»Dieser Tierarzt hat schon wieder angerufen«, sagte Mama, ohne mich anzusehen. »Er muss sich ja große Sorgen um den Kater machen. Dabei sieht er gar nicht krank aus.« Sie blickte auf und gab mir mit hochgezogenen Brauen zu verstehen, dass sie gerne mehr über das Thema gewusst hätte. Andy, der graue Tigerkater, von dem die Rede war, saß hinter Mama in einem Rundbogenfenster und leckte sich die weißen Pfoten.
Ich beschloss, mich bedeckt zu halten. Als Tim, unser Tierarzt, seiner letzten Rechnung eine Einladung zu einer Vernissage beigelegt hatte, war ich selbst überrascht gewesen. Seither waren wir ein paar Mal miteinander ausgegangen, und ich mochte ihn, weil er einfühlsam und geduldig war. Ich hatte es längst aufgegeben, Mama von meinen Männergeschichten zu erzählen, weil sie sich bei jedem Mann sofort Hoffnungen machte, dass ich ihn heiratete. »Ich bin ein bisschen müde und lege mich hin.«
Mama merkte sofort, dass etwas passiert war, und kam auf mich zu. »Geht es dir gut?«
»Ja.« Ich brachte ein Lächeln zustande.
Ich ging nach oben und zog mich in mein Zimmer zurück, wo ich die Fensterläden zuklappte und eine CD von Bellinis Oper Norma einlegte, die ich mit Mama an der Metropolitan
Opera gesehen hatte. Mit Matts Kette in der Hand lag ich auf dem Bett und ließ mich von den Erinnerungen überspülen.
Mama und Annette hatten mich damals zur Abtreibungsklinik begleitet und draußen im Wartezimmer gesessen, während ich auf den Eingriff vorbereitet wurde. Aber zuerst sollte per Ultraschall festgestellt werden, wie weit die Schwangerschaft schon fortgeschritten war. Eine reine Formalität, dachte ich. Die medizinisch-technische Angestellte schmierte mir ein kaltes, zähflüssiges Gel auf den Bauch, von dem ich Gänsehaut bekam. Ich hatte das Gefühl zu erfrieren, aber mein Krankenhaushemd musste offen bleiben, damit sie mit dem Ultraschallgerät den Fötus lokalisieren konnte.
Ich erwartete einen an der Gebärmutterwand klebenden Zellklumpen und zwang mich, an nichts zu denken. Aber dann tauchte plötzlich und ohne Vorwarnung der Fötus auf dem Monitor auf. Ich schnappte nach Luft und veränderte meine Position so abrupt, dass der Ultraschallkopf abglitt. Die medizinisch-technische Angestellte warf mir einen genervten Blick zu, aber ich ignorierte sie und starrte wie gebannt auf den Monitor.
Er machte Gymnastik. Eine kleine, kaulquappenähnliche Gestalt, die sich von den dicken Gebärmutterwänden abstieß, von einer Seite zur anderen schaukelte und voller Freude in der riesig wirkenden Fruchtblase herumschwamm. Er war aufsässig und verspielt, und ich bildete mir ein, dass er lachte. In diesem Moment begann ich ihn zu lieben, er war Matts Kind. Und meins, für immer.
Wäre sein Vater ein anderer Mann gewesen, hätte ich die Abtreibung vielleicht trotzdem durchgezogen. Aber er war von Matt. Sobald ich ihn einmal gesehen hatte, blieb mir keine andere Wahl mehr, als ihn auszutragen, auch wenn unser
gemeinsamer Weg nicht immer einfach war. Ohne mein Talent fürs Lernen wären wir alle
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