Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
lang und grau durch die leeren Stunden, und ich musste immer wieder an Mama denken, die allein in der Fabrik arbeitete. Ich sah ihre gepflegten Hände vor mir, die sich langsam über die gebügelten Kleider bewegten. Ich wusste genau, wie müde sie sein musste, aber ich konnte noch nicht hinfahren und sie unterstützen, weil ich ja offiziell noch in der Schule war. Als plötzlich eine Maus über die Dielen huschte und in der Küche verschwand, sprang ich erschrocken auf. Von jetzt an behielt ich den Besen in Reichweite, um mich gegen Eindringlinge und Ungeziefer zur Wehr setzen zu können. Immer wenn die Kakerlaken anfingen, über die Wand neben der Matratze zu krabbeln, machte ich Lärm, um sie auf Abstand zu halten, bemühte mich aber, sie nicht zu zerquetschen. Das war teilweise meiner buddhistischen Erziehung geschuldet, die mich gelehrt hatte, alle Lebewesen zu achten, lag aber hauptsächlich daran, dass ich die verschmierten Überreste der Kakerlaken nicht auf der Wand sehen wollte.
Aus Langeweile begann ich, Mamas Sachen durchzuwühlen. In ihrem Koffer fand ich ein viereckiges Stück Karton, das sorgfältig mit einem Faden umsäumt war. Ich wusste, dass darin eine alte 78er-Schallplatte steckte, die Art von Schallplatte, die nur ein Lied pro Seite abspielt. Diese Schallplatte musste einen hohen ideellen Wert für Mama haben, denn einen anderen Grund, sie aufzuheben, gab es nicht. Wir besaßen hier noch nicht einmal einen Plattenspieler. Vorsichtig öffnete ich die Hülle und erwartete ein Stück aus einer chinesischen Oper. Umso überraschter war ich, als ich eine
italienische Oper hervorzog. Auf dem Etikett las ich, dass es Caruso war, der Cavaradossis Arie »E lucevan le stelle« aus der Oper Tosca sang. Ein Foto flatterte auf den Boden. Plötzlich erinnerte ich mich:
Unsere Wohnung in Hongkong, der Deckenventilator brummt. Ich liege auf dem Sofa, und Mama spielt mir eine Schallplatte vor dem Zubettgehen vor. Das war unser allabendliches Ritual: ein Lied und dann ins Bett. Normalerweise suchte sie chinesische Musik aus, aber an diesem Abend hatte sie einen Mann aufgelegt, der voller Schmerz in einer fremden Sprache sang. Die Wörter brachen wie reuevolle Keuchlaute aus ihm hervor. Sie hatte sich von mir weggedreht. Als ich ihr Gesicht wieder sehen konnte, hatte sie sich gefasst und zeigte keinerlei Gefühlsregung.
An diesem und an vielen folgenden Abenden dachte ich beim Schlafengehen über Mamas Leben und den Kummer nach, den sie mit dieser Musik verband. Ich wusste, dass ihre Eltern Landbesitzer und Intellektuelle gewesen waren, die während der Kulturrevolution allein aus diesem Grund zum Tode verurteilt worden waren. Bevor sie starben, hatten sie das gesamte ihnen verbliebene Vermögen dazu verwendet, Mama und Tante Paula aus China hinauszuschleusen und nach Hongkong zu bringen, bevor es zu spät war. Und dann war Mama ihre große Liebe – mein Vater – viel zu jung genommen worden. Er war erst Mitte vierzig gewesen und eines Abends mit Kopfschmerzen ins Bett gegangen, um später in derselben Nacht an einem heftigen Schlaganfall zu sterben.
Ich hob das Foto auf, das aus der Plattenhülle gefallen war. Es war die Aufnahme, die in einem Rahmen auf dem Klavier in unserem Wohnzimmer in Hongkong gestanden hatte. Wie so viele Menschen im damaligen Hongkong konnten wir uns keine eigene Kamera leisten, deshalb war es das einzige
Foto von uns dreien, das ich kannte. Trotz der steifen Pose, die wir für den Fotografen eingenommen hatten, waren unsere Köpfe leicht einander zugeneigt, eine richtige Familie. Mama sah sehr hübsch aus mit ihren feinen Zügen und der blassen Haut, die sich straff über ihre Wangenknochen spannte. Und Papa war das ideale Gegenstück: dunkle, leuchtende Augen, gut aussehend, ein kantiges Kinn – er sah aus wie ein Filmstar. Ich betrachtete seine großen Hände, von denen eine den Ellbogen des Kindes, meinen Ellbogen, umschloss – ganz zart, wie mir schien. Es war eine heldenhafte Hand, eine Hand, die einen schweren Pflug bedienen konnte, die mit Dämonen und Straßenräubern fertigwurde. Und daneben ich, wie ich ungefähr zweijährig auf Papas Knien balanciere und neugierig in die Kamera spähe. Ich trage einen Matrosenanzug, und meine Hand ist zu einem militärischen Salut an die Stirn gehoben, zweifellos die Idee des Fotografen. Ein glückliches Kind. War ich wirklich einmal so niedlich gewesen, so unbeschwert?
Auf die Rückseite waren Schriftzeichen gekritzelt: unsere
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