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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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Namen und das Datum. Ich wusste, dass es nicht Mamas Schrift war, also musste es seine sein. Mit dem Finger fuhr ich über den Abdruck, den der Stift auf dem dicken Papier hinterlassen hatte. Das war mein Papa, seine Hand hatte diese Worte geschrieben.
    Das war alles, was ich an Stelle einer Erinnerung besaß. Aber wie groß mein Verlust auch war, Mamas Verlust war ungleich größer. Sie hatte ihn wirklich gekannt und geliebt, und sein Tod hatte sie mit der Aufgabe allein zurückgelassen, mich großzuziehen und für mich zu sorgen. Vorsichtig legte ich die Schallplatte und das Foto zurück. Ich wünschte mir mehr als je zuvor, Mama zur Seite zu stehen und alles in meiner Macht Stehende zu tun, um ihr zu helfen.
    Endlich war es Zeit, zur Fabrik aufzubrechen. Ich kam an einem fahrbaren Stand mit der Aufschrift »Hot Dogs« vorbei. Der Händler verkaufte dünne Würstchen in einem Brötchen mit gelber Soße oben drauf. Es sah köstlich aus und roch auch so, aber ich hatte nur eine U-Bahn-Marke und ein Zehncentstück für Notfälle in der Tasche. In der U-Bahn hatte ich das Gefühl, dass mich alle anstarrten: Dieses Kind ist heute nicht zur Schule gegangen. Ich sah andere Kinder mit Rucksäcken in die U-Bahn-Station gehen und hoffte, dass ich niemanden traf, der mich erkannte. Ein Polizist mit schwerer Pistole am Gürtel stand neben dem Fahrkartenschalter und starrte mich an, als ich meine Marke in den Schlitz steckte.
    »He!«, rief er.
    Ich erstarrte und erwartete, dass er mich verhaftete. Aber er meinte ein anderes Kind, das eine zerknitterte Papiertüte auf den Boden geworfen hatte.
    »Heb das sofort wieder auf!«, befahl er.
    Ich passierte die Schranke und rannte hinunter zum Bahnsteig.

3
    M ama und ich stellten bald fest, dass unsere Wohnung keine Heizung hatte. Voller Hoffnung schrubbten wir den Heizkörper im Wohnzimmer, scheuerten ihn, bis mit dem Staub auch ein Großteil der Farbe abgeblättert war, aber wie sehr wir auch am Regler drehten, die Heizung blieb kalt. Wir erkundeten den zweiten Stock unseres Gebäudes und stellten fest, dass alle anderen Wohnungen leer standen. Überall stapelte sich der Müll – neben den Türen, in den Treppenspalten. Neben einer Tür stand ein Stoß halbvoller Umzugskisten, als wäre jemand mitten im Umzug verschwunden oder gestorben. Am zugenagelten Schaufenster unter uns hing ein verblasstes Schild mit der Aufschrift »Dollar Store«. Wir fanden den Zugang zum Hinterhof, der aus einem riesigen Berg Abfall bestand. Vermutlich hatten ihn die Anwohner und Nachbarn im Laufe der Jahre hinuntergeworfen. Die Tür zum Keller war abgeschlossen.
    Als Mama Tante Paula höflich fragte, wie die Heizung funktionierte, verstand diese sofort die eigentliche Frage und antwortete, sie habe Mr N. schon um Erlaubnis gebeten, die Reparatur in Auftrag zu geben. Außerdem würden wir ohnehin nicht mehr lange in der Wohnung bleiben.
    Also fror ich weiter, während ich die Schule schwänzte und meine Zeit in der Wohnung totschlug. Nachdem ich fast eine Woche nicht zur Schule gegangen war, sah ich zum ersten Mal Schnee vom Himmel rieseln. Die Flocken fielen schräg
auf die Erde, und anfangs saugten die betonierten Bürgersteige sie auf wie ein Schwamm. Ich berührte das Fenster mit den Händen und war überrascht, dass es kalt war. Hätte der herunterrieselnde Reis nicht eigentlich warm sein müssen wie eine Suppe? Mit der Zeit legte sich der Schnee wie eine weiße Decke über den Boden, und die Windböen bliesen den Schnee von den Dächern und wirbelten ihn in Wolken durch die Luft.
    Noch heute sind meine Erinnerungen an jene Zeit vorherrschend von Kälte geprägt. Eine Kälte, die wie ein Peitschenhieb auf der Haut brennt, ein derart quälendes Prickeln, dass man nicht zu sagen wüsste, ob es nun heiß oder kalt ist. Man verbucht es einfach als Schmerz. Eine Kälte, die einem die Kehle hinunterkriecht, unter die Zehen und zwischen die Finger, die sich um die Lunge schlingt und ums Herz. Unsere dünne Baumwolldecke aus Hongkong war mehr als unzureichend. In den Läden in Hongkong gab es nichts zu kaufen, was einem New Yorker Winter standgehalten hätte. Wir schliefen unter einem Stapel aus Jacken und Kleidern, um uns so warm wie möglich zu halten. Wenn ich aufwachte, waren einzelne Glieder taub und eingefroren, unerwartete Körperteile wie meine Hüfte, weil dort ein Pullover vom Kleiderberg gerutscht war.
    Langsam bildete sich ein Eisfilm auf der Innenseite der Fenster, eine die Sicht

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