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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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beschäftigt, jedes Kleidungsstück, das sie in der Hand hielten, zu prüfen und die überstehenden Fäden mit einer Spezialschere abzuschneiden, die nach jedem Schnitt von alleine wieder aufsprang. Manche Kinder waren nicht älter als fünf. Ich entdeckte Matt, der mit flinken Fingern neben einem kleineren Jungen mit Brille arbeitete, neben dem wiederum eine Frau saß, die die Mutter der beiden sein musste. Sie trug eine große, rosa getönte Brille, die die riesigen Tränensäcke unter ihren Augen kaum verdeckte.
    Als die Mutter mich sah, blinzelte sie mich durch ihre dicken Brillengläser an.
    »Bist du ein Junge oder ein Mädchen?«, fragte sie. Matt unterdrückte ein Lachen.
    Ich wusste, dass ich wie ein Junge aussah. Ich war natürlich noch vollkommen flachbrüstig, und die Haare hatte mir Mama wegen der Hitze in Hongkong kurz geschnitten. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken.
    Die Frau hieß Frau Wu. Der kleinere Junge neben ihr war schmächtig und trug ebenfalls eine Brille, die von seinen abstehenden
Ohren baumelte. Er hielt den Blick gesenkt und arbeitete immer weiter am selben Rock. Ich beobachtete, wie er ihn ein ums andere Mal umdrehte und nach Fäden suchte, die er übersehen hatte. Auf dem Tisch neben ihm stand ein Spielzeugmotorrad, auf dessen Tank ein Indianer abgebildet war. Das Motorrad sah abgewetzt aus, so als hätte jemand daran herumgekaut.
    »Hallo«, sagte ich zu ihm.
    Als der Junge nicht reagierte, beugte sich Matt zu ihm hinüber und wedelte sanft mit der Hand vor seinem Gesicht herum. Dann machte er einige Handbewegungen, die so etwas wie eine Zeichensprache zu sein schienen. Der Junge hob den Kopf und senkte den Blick dann sofort wieder, aber ich sah, dass seine Augen hinter den Brillengläsern ins Leere blickten.
    »Park hört nicht besonders gut«, erklärte Frau Wu.
    »Mama, ich mache eine Pause«, verkündete Matt und sprang von seinem Hocker. Er drehte sich zu Park um und machte noch ein paar Handbewegungen. Vermutlich fragte er ihn, ob er mitwollte.
    Park zeigte keinerlei Reaktion, woraufhin sich Matt wieder zu mir umdrehte und sagte: »Er ist schüchtern.«
    »Bleib nicht zu lange weg«, ermahnte ihn Frau Wu. »Wir haben noch viel Arbeit zu erledigen.«
    Als die anderen Kinder sahen, dass wir eine Pause machten, kamen sie herüber und folgten uns zum Getränkeautomaten neben dem Eingang. Die Limonade kostete zwanzig Cent pro Flasche, weshalb nur wenige Arbeiter tatsächlich ihre Getränke hier kauften, wie ich später erfuhr. Aber der Gedanke an eine kalte Limonade in der glühend heißen Fabrik war so verlockend, dass der Getränkeautomat trotzdem ein beliebter Treffpunkt war.
    Ich vermutete, dass die meisten anderen Kinder aus denselben Gründen in der Fabrik waren wie ich: Sie waren nicht offiziell angestellt, hatten aber keinen anderen Ort, wohin sie gehen konnten, und ihre Eltern brauchten ihre Hilfe. Mama hatte mir bereits erklärt, dass die meisten Fabrikarbeiter unter der Hand nach Stückzahl bezahlt wurden – was bedeutete, dass die Arbeit dieser Kinder einen unverzichtbaren Beitrag zum Familieneinkommen darstellte. Auf der Highschool lernte ich später, dass die Bezahlung nach Stückzahl schon damals illegal war, aber diese Regeln galten für Weiße, nicht für uns.
    Während ich also dort am brummenden Getränkeautomaten lehnte, beobachtete ich die Fabrikkinder und stellte fest, dass Matt ihr Anführer war. Die Altersspanne reichte von vier Jahren bis zum Teenageralter. Um Geld zu sparen, nähte Mama viele meiner Kleider selbst, auch wenn sie das nicht besonders gut konnte, und so trug ich eine selbst genähte Bluse, während die anderen Kinder coole T-Shirts mit englischen Slogans wie »Wählen gehen!« anhatten. Außerdem streuten sie englische Ausdrücke in ihr Chinesisch ein, um damit anzugeben, wie amerikanisiert sie bereits waren. Alle schienen zu wissen, dass ich gerade erst vom Schiff gestiegen war. Als sie hörten, dass Hundefloh-Mama meine Tante war, gab es Geflüster, aber Matt hatte mich offenbar unter seine Fittiche genommen, denn es wagte niemand, mich zu hänseln. Trotz der harten Fabrikarbeit war ich erleichtert, wieder unter chinesischen Kindern zu sein.
    Nach zehn Minuten schlenderten alle wieder zu ihrer Arbeit zurück, die – wie alle wussten – erledigt werden musste, bevor es an diesem Abend nach Hause ging. Auch ich kehrte zu Mama zurück und ging wieder an die Arbeit, aber ich war völlig erschöpft. Seit drei Stunden war ich jetzt

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