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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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den trüben Fensterscheiben hängen blieben. Ich war noch nie richtig allein gewesen. In der Mitte der Matratze fühlte ich mich einigermaßen sicher, weil ich von hier aus wenigstens jede Kakerlake sehen konnte, die sich mir näherte. Alles Mögliche hätte sich aus der Dunkelheit jenseits des Türrahmens auf mich stürzen können. Die raschelnden Mülltüten vor den Fenstern in der Küche erinnerten mich daran, wie einfach es für einen Einbrecher gewesen wäre, das Klebeband abzureißen und in die Wohnung zu steigen. Falls jemand einbrach, würde ich einfach aus dem Fenster
auf der Straßenseite springen. Wenn ich mich vorsichtig am Fensterbrett hinunterließ, überlebte ich den Sturz vielleicht sogar. Der Sprung aus dem Fenster wurde meine Lösung für alle Eventualitäten, die mir durch den Kopf schossen: falls der Herd in Brand geriet, falls aus dem Badezimmer ein Geist auftauchte, falls eine Ratte angriff, falls Mama zur Tür hereinkam, weil sie etwas vergessen hatte.
    In der Wohnung war es feucht und klamm. Es war November, und der Winter in diesem Jahr sollte sich als einer der bittersten in der Geschichte New Yorks herausstellen. Um mich von der Kälte und meiner Angst abzulenken, schaltete ich unseren kleinen Fernseher ein und tauchte ein in eine Welt aus lebhaftem Geplapper, Geschirr und Zitronenduftspray. Auf vielen Kanälen liefen Krankenhausserien: Ärzte, die Krankenschwestern küssten, Krankenschwestern, die Patienten küssten; es liefen Filme über Cowboys und Indianer; Sendungen, bei denen Menschen im Viereck zusammensaßen und von Scheinwerfern beleuchtet wurden. Vor allem die Werbespots waren mir ein Rätsel: »Heben Sie die Arme mit einem sicheren Gefühl!«, rief eine Stimme dröhnend, und dann sah man Männer und Frauen, die ihre Arme in die Luft warfen. Warum sollte man so etwas tun? Hatte das vielleicht etwas mit der Freiheitsgöttin zu tun?
    »Verdreifachen Sie Ihr Vokabular in dreißig Tagen«, versprach eine autoritäre männliche Stimme. »Bedrucken Sie Ihre Freunde. Zeigen Sie Ihrem Chef, wer der Chef ist.« Ich setzte mich aufrechter hin und stellte mir vor, wie ich ins Klassenzimmer zurückkehrte und plötzlich Wörter benutzte, die selbst Mr Bogart nicht kannte. Dann kam eine Werbung für Buchstabensuppe, ein Gericht, das mich faszinierte, wie alles in Buchstabenform. Ich stellte fest, dass es fast Mittag war und ich Hunger hatte.
    Ich wagte mich in die dunkle Küche und schielte in unseren kleinen Kühlschrank. Mama war es nicht gewöhnt, einen Kühlschrank zu haben, deshalb war er fast leer. Ich fand nur ein paar Hühnchenreste, bei denen die Knochen unter der fettigen Haut hervorlugten, ein wenig Reis mit Gemüse, das bereits gelb wurde, und einen flachen Behälter mit Sojasoße. Ich traute mich nicht, irgendetwas davon anzurühren. Mir war beigebracht worden, dass man alles vor dem Essen gründlich erhitzen musste. Die Kinder in den Werbespots, die ich gerade gesehen hatte, aßen Käsebrote mit Äpfeln und Milch, aber es war kein Brot da, geschweige denn etwas, womit ich es hätte belegen können. Ich schreckte sogar davor zurück, mir selbst ein Glas Wasser zu holen. Zu Hause hatte ich einmal so schlimmen Durchfall von unabgekochtem Leitungswasser bekommen, dass ich fast gestorben wäre. In Hongkong hatte mir Mama immer eine warme Mahlzeit gemacht, wenn wir zusammen von der Schule kamen: gedämpfte Makrelen mit schwarzen Bohnen, gebratene Schweinehaut, Kürbissuppe, gebratenen Reis mit Frühlingszwiebeln.
    Ich sah weiter fern, während mein Magen knurrte. Auf dem Bildschirm erschienen glänzende Puppenküchen, Gummibälle, die so groß waren, dass sich Kinder daraufsetzen konnten, Kinder, die in Baumhäusern Kekse aßen. In einem Werbespot saß eine Familie an einem langen, mit Essen beladenen Tisch. Ich sehnte mich nach dem Zimmer, in dem der Tisch stand. Es war so sauber, dass man sich hätte auf den Boden legen können. In unserer Wohnung hingegen traute ich mich kaum, irgendetwas anzufassen. Selbst nach unserer gründlichen Putzaktion schien alles noch immer mit dem Staub toter Insekten und Mäuse bedeckt zu sein. Ich gab mich einer meiner Lieblingsfantasien hin: dass Papa noch am Leben war. Wenn er hier gewesen wäre, hätten wir vielleicht
gar nicht in der Fabrik arbeiten müssen. Vielleicht wäre es ihm gelungen, eine richtige Arbeit zu bekommen, und wir hätten uns ein Leben aufbauen können, wie es diese Menschen im Fernsehen führten.
    Trotz Fernsehen zog sich der Tag

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