Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
dass man stets seine Schulden begleichen musste. Auf der Suche nach etwas, das ich ihm schenken konnte, stülpte ich meine Taschen nach außen, aber ich stieß nur auf Fetzen des Klopapiers, das ich als Taschentuch benutzt hatte.
»Igitt!«, sagte er. »Lass stecken.« Er machte kehrt und ging zur Abteilung der Näherinnen zurück.
Ich erhaschte einen Blick auf Tante Paulas hochgewachsene Gestalt im Büro und eilte davon. Nachdem ich die Fabrik der Länge nach durchquert hatte, erreichte ich die Endbearbeitung.
Mamas Haare steckten unter einem Kopftuch, und an ihrer rechten Schläfe, wo sie sich vermutlich die Schweißperlen weggewischt hatte, war ein malvenfarbener Klecks zu sehen.
»Hallo, heute war keine Schule«, platzte ich sofort heraus.
Mama verschränkte die Arme. »Warum bist du dann nicht früher gekommen?«
»Ich musste an einem großen Projekt arbeiten, das wir nächste Woche vorstellen müssen.«
»Um was geht es bei diesem Projekt?«
Meine Gedanken rasten. »Aktuelle Ereignisse. Ich musste die Nachrichten schauen.«
Mama nickte, blieb aber misstrauisch. »Du bist also rein zufällig genau zur selben Zeit in der Fabrik aufgetaucht wie sonst nach der Schule?«
Ich zögerte eine Sekunde zu lange. »Ich habe noch nie zu einer anderen Zeit die U-Bahn genommen.«
Mama fing an, einen Gürtel in den Rock zu fädeln, den sie gerade in der Hand hielt. Dann fragte sie: »Worüber hast du vorhin mit dem Wu-Jungen gesprochen?«
»Über n-nichts«, stammelte ich.
»Du hast aber ein ganz überraschtes Gesicht gemacht.«
»Nein, er wollte nur, dass ich später mit spielen komme.« Ich versuchte, unbekümmert zu lachen. »Er hat immer nur Unsinn im Kopf.«
»Ich finde, du solltest dich vor ihm in Acht nehmen.«
»Ja, Mama.«
Mama legte den Rock beiseite und setzte sich auf einen Hocker. Sie sah mich an. »Freunde dich lieber nicht zu sehr mit den anderen Fabrikkindern an. Denk immer daran, ah- Kim: Wenn du mit ihnen spielst, wenn du versuchst, wie sie zu reden, wie sie zu lernen, dich wie sie zu benehmen – was macht dich dann noch zu etwas Besonderem? Nichts. Und in zehn oder zwanzig Jahren bist du dann genauso wie die älteren Mädchen und sitzt an den Nähmaschinen dieser Fabrik, bis du nicht mehr kannst, und wenn du zu alt zum Nähen bist, schneidest du Fäden ab wie Frau Wu.«
Sie machte eine kurze Pause, als überlegte sie, ob sie fortfahren sollte. »Die meisten Menschen schaffen es nie aus diesem Leben heraus. Für mich ist es wahrscheinlich auch schon zu spät. Meine Tage als kultivierte Musiklehrerin sind gezählt.
« Als sie meinen betroffenen Blick sah, beeilte sie sich, mich zu beruhigen: »Das ist schon in Ordnung, dafür ist eine Mutter da. Um alles Nötige zu tun, damit ihr Kind ein gutes Leben führen kann. Aber du darfst nie vergessen, dass du die gescheiteste Schülerin warst, die unsere Volksschule in Hongkong je gesehen hat. An deiner Intelligenz kann nichts und niemand etwas ändern, ob es dein jetziger Lehrer nun anerkennt oder nicht. Und noch viel wichtiger ist, dass nichts und niemand deinen Charakter ändern kann, außer du selbst.« Sie zog mich zu sich heran. »Es tut mir leid, dass ich dich hierhergebracht habe.«
So deutlich sagte Mama danach nie wieder, dass sie die Entscheidung bereute, nach Amerika gekommen zu sein. Ich wusste, was jetzt meine Aufgabe war, und legte meine Wange an ihre Schulter. »Ich hole uns beide hier raus, Mama, versprochen.«
Am Montag musste ich also zurück in die Schule. Papa war tot, und sonst gab es niemanden, der Mama aus diesem Leben retten konnte. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Mama als alte Frau in der Fabrik Fäden abschnitt. Und ich dachte daran, was Tante Paula so beiläufig über meinen Cousin Nelson gesagt hatte: dass sein Lehrer glaubte, er könne ein guter Anwalt werden. Ich wusste nicht genau, was Anwälte taten, aber ich wusste, dass sie viel Geld verdienten. Wenn selbst Nelson eine derart mächtige Persönlichkeit werden konnte, dann konnte ich das erst recht.
In gewisser Weise war ich erleichtert über meine Entscheidung. Die Stunden in der Wohnung waren von Schuldgefühlen und Angst geprägt gewesen, kalt, hungrig und einsam. Insgeheim hatte ich die ganze Zeit gewusst, dass ich nicht ewig so weitermachen konnte. Die Götter gewährten mir eine
zweite Chance. Dank Thanksgiving hatte ich noch ein paar Tage Zeit, um mir eine Ausrede für die fünf versäumten Tage auszudenken, bevor ich zurück in die Schule
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