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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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um die Ecke bog, verlor ich sie aus den Augen und hörte nur noch, wie sie eine Treppenstufe nach der anderen zum Knarzen brachte. Ich suchte unser Gepäck nach einem Gegenstand ab, den ich als Waffe benutzen konnte. Ich würde schreien und dann nach oben rennen, um ihr zu helfen. Vor meinem inneren Auge tauchten die Raufbolde aus meiner alten Schule in Hongkong auf: der dicke Wong und der lange Lulatsch Lam. Warum war ich nicht so groß und stark wie sie? Von oben war ein Schlurfen zu hören, eine Tür schnappte auf, Dielen ächzten. War das Mama oder jemand anders? Ich spitzte die Ohren und lauschte auf ein Keuchen oder einen dumpfen Schlag. Es blieb still.
    »Komm hoch!«, rief sie. »Du kannst die Tür jetzt zumachen.«
    Meine Glieder erschlafften, als hätte man die Luft aus ihnen herausgelassen. Neugierig lief ich die Treppe hoch, um mir unsere neue Wohnung anzusehen.
    »Pass auf, dass du nichts berührst«, sagte Mama.
    Ich stand in der Küche. Der Wind pfiff durch die beiden Fenster zu meiner Rechten, und ich fragte mich, warum Mama sie aufgemacht hatte. Dann sah ich, dass sie zu waren, aber dass die meisten Fensterscheiben fehlten oder gesprungen waren. Aus den Holzrahmen ragten nur noch schmutzige Scherben. Eine dicke Schicht Staub bedeckte den kleinen
Küchentisch und die breite Spüle, die weiß und von Lochfraß befallen war. Ich bemühte mich, den vertrockneten Körpern der toten Kakerlaken auszuweichen, die auf dem Boden verstreut lagen. Sie waren riesig, und ihre Beine waren umrahmt von den scharfen Schatten, die sie warfen.
    Das Bad war in der Küche, und die Tür befand sich direkt gegenüber dem Herd, was, wie jedes Kind weiß, furchtbares Fengshui bedeutet. Um Spüle und Kühlschrank herum war ein Teil des dunkelgelben Linoleumbodens abgerissen und gab den Blick auf die darunterliegenden, völlig verzogenen Dielen frei. Die Wände hatten Risse oder wölbten sich nach außen, als hätten sie etwas verschluckt. An manchen Stellen war die Farbe abgeblättert und entblößte den nackten Gips wie Fleisch unter der Haut.
    Von der Küche ging ein weiteres Zimmer ab, ohne Tür dazwischen. Als wir es betraten, sah ich aus den Augenwinkeln mehrere braune Punkte langsam in die Wände verschwinden: lebende Kakerlaken. In den Wänden konnten sich auch Ratten oder Mäuse verbergen. Ich nahm Mama den Besen aus der Hand, den sie immer noch festhielt, drehte ihn um und knallte den Stiel fest gegen den Boden.
    »Ah -Kim«, sagte sie. »Du störst noch die Nachbarn!«
    Ich hörte mit dem Hämmern auf und schwieg, obwohl ich den dumpfen Verdacht hatte, dass wir die einzigen Mieter im Gebäude waren.
    Die Fenster des zweiten Zimmers gingen zur Straße und waren intakt. Mir kam der Gedanke, dass Tante Paula vermutlich nur die Fenster hatte reparieren lassen, die für die Außenwelt sichtbar waren. Obwohl das Zimmer kahl und leer war, stank es nach altem Schweiß. In der Ecke lag eine Doppelmatratze auf dem Boden. Sie war blau-grün gestreift und hatte Flecken. Außerdem gab es einen niedrigen Couchtisch,
dessen eines Bein zu kurz war und auf dem ich in Zukunft meine Hausaufgaben machen würde, und eine Kommode, von der die weiße Farbe rieselte wie Schuppen von einem Kopf. Das war alles.
    Was Tante Paula gesagt hatte, konnte nicht stimmen. In dieser Wohnung hatte schon lange niemand mehr gelebt, dachte ich. Mir ging auf, dass sie alles absichtlich so arrangiert hatte: Sie hatte uns unter der Woche einziehen lassen statt am Wochenende und uns in letzter Sekunde die Geschenke in die Hand gedrückt. Nachdem sie uns hier abgesetzt hatte, hatte sie die Fabrik als Vorwand benutzt, um schnell wieder fahren zu können, um abzuhauen, während wir uns bei ihr noch für ihre Güte und Großzügigkeit bedankten. Tante Paula würde uns bestimmt nicht helfen. Wir waren ganz auf uns alleine gestellt.
    Ich schlang die Arme um meinen Körper und flehte: »Mama, ich will nach Hause!«
    Mama beugte sich zu mir hinunter und lehnte ihre Stirn an meine. Sie brachte zwar kein Lächeln zustande, aber ihre Augen leuchteten. »Wir schaffen das schon. Du und ich, Muttertier und Junges.« Wir beide als Familie.
    Ich fragte mich, was Mama wirklich von alldem hielt. Mama, die im Restaurant alle Tassen und Essstäbchen mit ihrer Serviette abwischte, weil sie ihr nicht sauber genug waren. Auch für Mama musste in ihrer Beziehung zu Tante Paula etwas Neues zutage getreten sein, als sie die Wohnung sah, etwas Nacktes, das unter der Oberfläche ihrer

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