Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
meine Schulter, und als ich aufblickte, war ihr Gesicht ganz ruhig. Ich sah, dass sie wirklich meinte, was sie sagte. »Du darfst nie vergessen, wie tief wir in Tante Paulas und Onkel Bobs Schuld stehen, weil sie uns aus Hongkong herausgeholt und hierher nach Amerika gebracht haben, zum Goldenen Berg.«
Ich nickte. Meine Klassenkameraden hatten ihren Neid kaum verbergen können, als sie gehört hatten, dass wir in die USA zogen. Bevor die Briten Hongkong 1997 planmäßig an die chinesisch-kommunistische Regierung zurückgaben, war die Ausreise äußerst kompliziert gewesen. Es gab so gut wie kein Entkommen, es sei denn, man war eine Frau – und hübsch oder charmant genug, um von einem chinesischamerikanischen Mann geheiratet zu werden, der auf der Suche nach einer Ehefrau nach Hongkong zurückkehrte. Genau das war Tante Paula passiert. Und jetzt war sie so nett, uns an ihrem Glück teilhaben zu lassen.
Als Tante Paula an jenem ersten Vormittag in Amerika nach Hause kam, bat sie Mama und mich, uns mit ihr an den Küchentisch zu setzen.
»Also, Kimberly«, sagte Tante Paula und trommelte mit den Fingern auf die Plastiktischdecke. Sie roch nach Parfüm und hatte ein Muttermal auf der Oberlippe. »Ich habe gehört, was für ein aufgewecktes Kind du bist.« Mama lächelte und nickte; in Hongkong war ich immer Klassenbeste gewesen. »Du wirst deiner Mutter hier eine große Hilfe sein«, fuhr Tante Paula fort. »Und Nelson kann sicher auch viel von dir lernen.«
»Nelson ist aber auch ein schlauer Junge«, warf Mama ein. »Oh ja, er schlägt sich recht ordentlich in der Schule, und sein Lehrer hat mir gesagt, dass er irgendwann bestimmt einen wunderbaren Anwalt abgibt, weil er so gerne widerspricht. Aber von jetzt an hat er Grund, sich besonders anzustrengen, nicht wahr? Um mit seiner hochbegabten Cousine mitzuhalten!«
»Du setzt ihr den hohen Hut der Schmeichelei auf den Kopf, ältere Schwester! Sie wird es nicht leicht haben hier. Ah- Kim spricht kaum ein Wort Englisch.«
»Das ist allerdings ein Problem. Nelson braucht auch Hilfe bei seinem Chinesisch – diese in Amerika geborenen Kinder! Aber du solltest sie ab jetzt bei ihrem amerikanischen Namen rufen, kleine Schwester: Kimberly. Es ist sehr wichtig, dass man einen Namen hat, der so amerikanisch wie möglich klingt. Sonst glauben die Leute, man wäre gerade erst vom Schiff gestiegen!« Tante Paula lachte.
»Wenn wir dich nicht hätten«, bemerkte Mama höflich. »Wir möchten uns sobald wie möglich revanchieren. Wann soll ich mit Nelsons Chinesisch-Unterricht anfangen?«
Tante Paula zögerte. »Genau darüber wollte ich mit dir sprechen. Der Unterricht ist nicht mehr nötig.«
Mama zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, du wolltest, dass Nelson besser Chinesisch spricht? Sollte ich mich nicht um Godfrey kümmern und Nelson von der Schule abholen? Du hast doch gesagt, dass der Babysitter so teuer ist, und nachlässig noch dazu. Bleibst du zu Hause und kümmerst dich selbst um die Kinder?« Mama fing vor lauter Verwirrung an zu stammeln. Warum ließ sie Tante Paula nicht einfach reden?
»Nein, nein.« Tante Paula kratzte sich seitlich am Hals, eine Geste, die ich schon vorher an ihr beobachtet hatte. »Ich wünschte, das ginge. Aber ich bin inzwischen so ausgelastet mit meinen vielen Verpflichtungen: die Fabrik, die Immobilien von Mr N. Ständig habe ich Kopfschmerzen.« Tante Paula hatte uns bereits wissen lassen, dass sie unverzichtbar war und nicht nur die Kleiderfabrik leitete, sondern auch eine Reihe von Gebäuden für einen entfernten Verwandten von Onkel Bob verwaltete, einen Geschäftsmann aus Taiwan, den sie »Mr N.« nannte.
Mama nickte. »Du musst auf deine Gesundheit achten …« Ihr Tonfall war forschend. Auch ich fragte mich, wohin das Gespräch führen würde.
Tante Paula spreizte die Hände. »Jeder will mehr Geld, alles muss Profit abwerfen. Jedes Gebäude, jede Lieferung …« Sie sah Mama an, aber ich wurde nicht schlau aus ihrem Gesichtsausdruck. »Ursprünglich hatte ich mir vorgestellt, dass es mir die Kindererziehung erleichtern würde, dich hierherzuholen. Aber dann hattest du deine Probleme.«
Vor rund einem Jahr war bei Mama Tuberkulose diagnostiziert worden, zu einem Zeitpunkt, als der Papierkram für unsere Auswanderung bereits erledigt gewesen war. Monatelang hatte sie riesige Tabletten hinunterwürgen müssen. Ich sah sie immer noch vor mir, wie sie in Hongkong fiebernd im Bett
lag, aber wenigstens hatten die
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