Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
höflichen Gespräche pochte.
In unserer ersten Woche in den Vereinigten Staaten hatten Mama und ich in dem niedrigen, quadratischen Haus von Tante Paula und ihrer Familie auf Staten Island gewohnt. Am
Abend unserer Ankunft aus Hongkong war es kalt draußen, und durch die Heizungsluft im Haus fühlte sich mein Hals trocken an. Mama hatte Tante Paula, ihre älteste Schwester, seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen, seit dem Tag, als Tante Paula Hongkong verlassen hatte, um Onkel Bob zu heiraten, der schon als Kind nach Amerika ausgewandert war. Ich hatte von der großen Fabrik gehört, die Onkel Bob führte, und mich schon immer gefragt, warum so ein reicher Mann nach Hongkong zurückkehren musste, um eine Frau zu finden. Jetzt sah ich, dass er sich beim Gehen auf einen Stock stützte, und mir wurde klar, dass mit seinem Bein etwas nicht stimmte.
»Mama, können wir jetzt essen?« Das Chinesisch meines Cousins Nelson klang unbeholfen, die Betonung war falsch. Bestimmt hatte man ihm gesagt, er sollte uns zuliebe chinesisch sprechen.
»Gleich. Aber zuerst gibst du deiner Cousine einen Kuss und heißt sie in Amerika willkommen«, befahl Tante Paula. Sie nahm den dreijährigen Godfrey bei der Hand und schubste Nelson in meine Richtung. Nelson war elf, genau wie ich, und man hatte mir versprochen, dass er mein bester Freund werden würde. Ich betrachtete ihn eingehend: Er war ein dicker Junge, hatte jedoch magere Beine.
Nelson rollte mit den Augen. »Willkommen in Amerika«, sagte er laut, damit die Erwachsenen es hörten. Er beugte sich vor, tat so, als würde er mir einen Kuss auf die Wange geben, und sagte leise: »Du bist eine Harke voller Dreck.« Er nannte mich eine Landpomeranze. Dieses Mal war seine Betonung perfekt.
Mein Blick schoss hinüber zu Mama, die aber hatte nichts gehört. Zuerst war ich schockiert von seinen schlechten Manieren und spürte, wie mir die Röte den Hals hinaufkroch. Aber dann lächelte ich und tat so, als würde ich ihm meinerseits
einen Kuss geben. »Wenigstens bin ich keine Kartoffel mit Räucherstäbchen als Beinen«, flüsterte ich.
Die Erwachsenen strahlten.
Wir wurden herumgeführt. Mama hatte mir erzählt, dass wir in unserem neuen Leben in Amerika bei Tante Paula wohnen und uns um Nelson und Godfrey kümmern würden. Das Haus kam mir sehr luxuriös vor, mit orangefarbenem Teppichboden statt der einfachen Betonböden, die ich gewöhnt war. Während ich den Erwachsenen durchs Haus folgte, fiel mir auf, wie groß Tante Paula war, fast so groß wie ihr Mann. Neben ihr wirkte Mama, die gerade krank gewesen war und ziemlich abgenommen hatte, klein und zerbrechlich. Allzu lange konnte ich jedoch nicht darüber nachdenken, weil ich zum ersten Mal barfuß herumlaufen durfte und mich wunderte, wie kratzig sich der Teppich anfühlte.
Tante Paula zeigte uns all ihre Möbel und einen ganzen Schrank voller Bett- und Tischwäsche. Am meisten aber beeindruckte mich das heiße Wasser, das aus den Hähnen kam. So etwas hatte ich noch nie gesehen. In Hongkong war das Wasser rationiert. Es war immer kalt und musste abgekocht werden, bevor man es trinken konnte.
Dann öffnete Tante Paula ihre Küchenschränke, um uns ihre blitzblanken Kuchenformen und Töpfe zu zeigen. »Wir haben ausgezeichneten weißen Tee«, sagte sie stolz. »Die Blätter entrollen sich nach dem Aufgießen und werden so lang wie ein Finger. Ein sehr zartes Aroma. Bitte trinkt doch, so viel ihr möchtet. Und hier sind die Pfannen. Aus Edelstahl, perfekt zum Braten und Dämpfen.«
Als Mama und ich am nächsten Morgen auf den Sofas aufwachten, die uns als Nachtlager dienten, hatten Tante Paula und Onkel Bob bereits das Haus verlassen, um die Kinder
in den Kindergarten beziehungsweise die Schule zu bringen und ihre Arbeit in der Kleiderfabrik anzutreten. Auf einem Zettel stand jedoch, dass Tante Paula gegen Mittag nach Hause kommen würde, um alles für uns zu regeln.
»Sollen wir mal diesen besonderen weißen Tee probieren?«, fragte ich Mama.
Mama zeigte auf die Küchenablage. Darauf stand nichts als eine alte Keramikkanne und eine Schachtel mit billigem grünem Tee. »Mein Herzblatt, glaubst du denn, das steht dort rein zufällig?«
Ich starrte zu Boden und schämte mich für meine Dummheit.
»Chinesisch ist manchmal nicht leicht zu verstehen«, erklärte Mama. »Manches kommt eben nicht direkt zur Sprache. Aber wir dürfen uns nicht über Kleinigkeiten ärgern. Jeder hat seine Fehler.« Sie legte ihre Hand auf
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