Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
darüber, dass Tammy tatsächlich versucht hatte zu betrügen. Wie hatte ich nur glauben können, der Zettel sei eine persönliche Nachricht für mich? Ich schämte mich unendlich dafür, dass mein Wunsch, gemocht zu werden und dazuzugehören, so groß
war, dass ich während eines Tests einen Zettel vom Boden aufgehoben hatte. Was würde Mama dazu sagen, wenn ich der Schule verwiesen wurde, noch dazu, weil ich gemogelt hatte?
Inzwischen starrten mich beide Frauen an und warteten auf eine Antwort.
Es klopfte an der Tür. Mrs Reynolds öffnete sie einen Spaltbreit. »Ja?«
Zu meiner Überraschung hörte ich Curts Stimme: »Ihre Assistentin hat mir erlaubt herzukommen. Ich habe etwas zu sagen.«
Nachdem er das Büro betreten hatte, verkündete Curt mit klarer Stimme: »Ich habe gesehen, wie Kimberly den Zettel aufgehoben hat.«
Dr. Copeland tippte sich mit dem Finger an die Wange. »Und er lag einfach so da herum?«
Curt schluckte. Er wusste nicht, wie viel ich schon gesagt hatte. »Sonst habe ich nichts gesehen. Nur, dass sie ihn aufgehoben hat.«
»Also, Kimberly: Entweder du warst unglaublich dumm, oder du hast etwas aufgehoben, das dir selbst heruntergefallen ist. Oder aber dein Freund hier versucht dich zu decken.«
Mein Blick schoss zu Curt hinüber. »Er ist nicht mein Freund«, entfuhr es mir.
Curt verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Sie hat recht. Wir haben bisher kaum miteinander geredet.«
Ich sah, wie Dr. Copeland Mrs Reynolds einen Blick zuwarf, die kaum merklich nickte und damit bestätigte, dass Curt und ich keine Freunde waren.
»Die Frage lautet also, ob jemand anders den Zettel fallen gelassen hat oder du selbst«, wiederholte Dr. Copeland.
»Das ist nicht meine Handschrift.«
»Schwer zu sagen, die Schrift ist so klein.«
Es war an der Zeit, ehrlich zu sein: »Ich bin zu schlau, um zu mogeln«, sagte ich und spürte, wie mir meine eigene Arroganz die Röte ins Gesicht trieb. Kein anständiges chinesisches Mädchen hätte je so etwas von sich selbst gesagt. »Das ist unter mir.«
Dr. Copeland zog ihren Mundwinkel zu einem halben Lächeln herauf. »Du meinst, das ist unter deiner Würde. Gut, ihr zwei dürft zurück in eure Klasse, um den Test fortzusetzen. Mrs Reynolds und ich besprechen, wie wir weiter verfahren.«
8
S obald Curt und ich außer Hörweite waren, drehte ich mich zu ihm um und fragte: »Warum hast du das für mich getan?«
Er zuckte mit den Schultern. »Weil ich wirklich gesehen habe, wie du den Zettel aufgehoben hast. Und weil ich gehört habe, wie Sheryl Tammy auf die Idee gebracht hat.«
»Du meinst, auf die Idee, sich einen Spickzettel in den Ärmel zu stecken?«
»Ja.«
Ich sah ihn lange an. »Danke.«
Er grinste. »Ich fände es ziemlich scheiße, wenn du rausfliegen würdest. Schließlich schreibe ich bei allen Tests von dir ab.«
Ich blieb abrupt stehen. »Was?«
Er boxte mich spielerisch in die Seite. »War nur ein Witz.«
Als wir das Klassenzimmer betraten, blickten alle von ihren Tests auf. Die Neugier war meinen Klassenkameraden deutlich ins Gesicht geschrieben. Tammys Augen liefen über vor Tränen, und ich fragte mich wütend, ob sie weinte, weil sie sich schuldig fühlte oder weil sie den Test jetzt ohne Spickzettel bewältigen musste. Bestimmt hielten mich jetzt alle für eine Betrügerin. Umso dankbarer war ich, dass Curt nachgekommen war und mich zurück ins Klassenzimmer begleitete, sozusagen als indirekter Beweis für meine Unschuld. Ich beantwortete die Testfragen noch sorgfältiger als sonst, weil die Schule die Situation letztendlich auch danach beurteilen würde,
wie ich ohne Spickzettel zurechtkam. Die Assistentin behielt mich aufmerksam im Auge. Nach einer Weile kam Mrs Reynolds zurück und nahm auf ihrem Stuhl vor der Klasse Platz, als wäre nichts gewesen.
Als die Glocke läutete, standen alle auf und gaben ihre Tests ab. Mrs Reynolds sagte: »Kim und Curt, ihr habt noch zehn Minuten, weil ihr später angefangen habt. Aber keine Sekunde länger.« Ihr Tonfall war schwer zu deuten. Ich befürchtete, den Respekt einer Lehrerin verloren zu haben, die ich sehr schätzte.
Als unsere Zeit um war, nahm sie unsere Tests entgegen und gab uns schweigend ein Entschuldigungsschreiben für die bereits begonnene nächste Stunde mit. Tammy hatte also erst beim Mittagessen Gelegenheit, mit mir zu sprechen.
Sie schlüpfte neben mir in die Warteschlange und drückte meinen Arm. Da sie nicht in Dr. Copelands Büro gerufen worden war,
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