Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Make-up in der Toilette oder vor dem Schließfach aufzutragen. Das interessierte mich mehr als die Skijacken, weil Make-up die magische Fähigkeit zu besitzen schien, einen normaler wirken zu lassen. Einmal zückte Annette in der Mädchentoilette einen sogenannten Abdeckstift und übermalte damit einen Pickel auf ihrem Kinn. Ich konnte es nicht glauben: Der Pickel war danach kaum noch zu sehen. Ich überlegte, ob ich damit auch meine Nase übermalen konnte, die oft wund vom vielen Naseputzen war.
»Nimm ihn«, sagte Annette. »Die Farbe ist sowieso zu dunkel für mich.«
Momente wie dieser bewiesen mir, dass mich Annette all meinen Ausweichmanövern zum Trotz besser verstand als jeder andere. Aber ich konnte mich trotzdem nicht dazu durchringen, mit ihr über meine schwierige Lage zu sprechen. So gutherzig sie auch war, sie hatte keine Ahnung, wie arm wir tatsächlich waren.
Jetzt, da ich ein wenig älter war, war ich nicht mehr ständig krank, obwohl mich immer noch oft eine laufende Nase quälte. Mehr Sorgen machte es mir, wenn Mama krank wurde. Bei jedem Husten befürchtete ich, sie könnte einen Tuberkulose-Rückfall erleiden, was glücklicherweise nie passierte. Unsere Lebensumstände besserten sich nicht, aber mit der Zeit verbot ich es mir, mein eigenes Elend bewusst wahrzunehmen.
Mama und ich hofften noch immer, dass die Abrissbirne endlich vor unserem Gebäude auftauchte und Tante Paula zwang, uns eine neue Wohnung zu suchen. Wir hofften vergeblich. Als Mama sie ein letztes Mal fragte, wann wir endlich
umziehen könnten, ließ Tante Paula ihr schwarzes Gesicht aufblitzen.
»Wenn ihr dort wirklich so unglücklich seid, hält euch niemand davon ab, euch anderweitig zu orientieren.«
Nach dieser Antwort traute sich Mama nicht mehr zu fragen. Wir zahlten immer noch unsere Schulden ab, und es war offensichtlich, dass Tante Paula kein Interesse daran hatte, eine andere Wohnung für uns zu finden. Für sie war es am bequemsten und einfachsten, wenn wir blieben, wo wir waren. Wir waren in einem Strudel aus Arbeit und Schule gefangen und viel zu erschöpft, um noch gegen Kakerlaken und Mäuse, eingefrorene Glieder, Plüschkleider und ein Leben vor dem offenen Backofen anzukämpfen. Der Alltag hatte uns zur Resignation gezwungen. Unser einziger freier Tag war der Sonntag, und selbst der war vollgestopft mit Pflichten: Wir erledigten sämtliche Einkäufe, holten Fabrikarbeit nach, bereiteten die chinesischen Feiertage vor. Hinzu kamen meine Hausaufgaben. Den einzigen Lichtblick bildeten unsere Besuche im Shaolin-Tempel in Chinatown, der sich im zweiten Stock eines Gebäudes in der Lower East Side befand und meine Zufluchtsstätte war.
Der Tempel wurde von echten chinesischen Nonnen mit rasierten Köpfen und schwarzen Gewändern geführt, die köstliche vegetarische Gratisgerichte servierten: gebratene Nudeln mit Tofu oder Reis mit durchscheinenden schwarzen Pilzen mit gekräuselten Rändern, die Wolkenöhrchen hießen. Wenn die Nonnen mir mein Essen reichten, spürte ich ihre Güte in jeder einzelnen Geste. Nachdem wir dann Räucherstäbchen angezündet und uns vor den riesigen dreileibigen Buddhas im Hauptraum des Tempels verbeugt hatten, erwiesen wir noch unseren Toten die letzte Ehre, vor allem natürlich Papa. Im Tempel war ich im Reinen mit mir, dort
fühlte es sich so an, als hätten wir Hongkong nie verlassen und als wachten mitfühlende Kräfte über Mama und mich.
Es kam nicht oft vor, dass ich der Fabrik entkam. Nur ganz selten, wenn uns ein wenig Zeit blieb bis zur nächsten Lieferung, log ich Mama an und stahl mich mit Annette für ein paar Stunden davon.
An einem dieser Nachmittage überredete sie mich, mit ins Kino zu kommen. Ich war in Amerika noch nie im Kino gewesen und zögerte zunächst, weil mir die Aussicht darauf so unglaublich erschien.
Annette verstand mein Zögern falsch und erhöhte den Anreiz: »Ich bringe meine Schminksachen mit, dann können wir uns vorher schminken. Keine Angst, das waschen wir hinterher wieder ab.«
Ich dachte mir also eine Ausrede für Mama aus und ging mit Annette in den Film Indiana Jones und der Tempel des Todes in einem Kino in ihrem Viertel. Ich machte mir Sorgen, ob mein Geld für die Eintrittskarte reichte, aber als wir vor dem Ticketschalter standen, bestand Annette darauf, für uns beide zu zahlen. Ich protestierte, war aber insgeheim erleichtert, weil ich kein Taschengeld bekam, über das ich frei verfügen konnte. Das Geld in meiner Tasche war
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