Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Fortschritte machte. Dennoch wusste ich, dass noch ein langer Weg vor mir lag, und paukte in jeder freien Minute.
Im zweiten Halbjahr der siebten Klasse verstand ich zwar
meine Lehrer immer besser, nicht aber meine Mitschüler. Der Slang, den sie untereinander benutzten, sorgte zusammen mit meinem fehlenden kulturellen Hintergrund dafür, dass für mich der Inhalt der meisten Gespräche noch rätselhaft blieb. Als Curt eines Tages in der Kantine über ein Leben nach dem Tod zu sprechen begann, spitzte ich am anderen Ende des Tischs die Ohren, weil ich hoffte, etwas über Religion zu lernen.
Weil Annette wie immer auf mich einplapperte, konnte ich nicht richtig zuhören, aber ich schnappte trotzdem ein paar Wortfetzen auf: »… Himmelspforte … Nonne steht also vor Petrus … sagt … Schwester, das Leben, das du geführt hast … geh zurück auf die Erde.«
Mein Interesse war geweckt, obwohl ich Curt bisher gar nicht als so gläubig eingeschätzt hatte.
Er fuhr fort: »›In meinem nächsten Leben möchte ich Sara Pipeline sein‹, sagte die Nonne. Sie zog einen Zeitungsartikel hervor und reichte ihn Petrus, der ihn durchlas und dann sagte: ›Nein, meine Liebe, das war die Sahara-Pipeline, die von tausendvierhundert Männern in sechs Monaten gelegt wurde.‹«
Curts Freunde brachen in lautes Gelächter aus, um deutlich zu machen, dass sie verstanden hatten. Ich erkannte, dass das, was ich für einen spirituellen Exkurs gehalten hatte, in Wirklichkeit ein dreckiger Witz gewesen war. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was die Sahara-Pipeline mit einer Nonne zu tun hatte oder was an einer Pipeline obszön war. Annette hatte die ganze Zeit weitergeredet, deshalb konnte ich sie unmöglich fragen, ohne zuzugeben, dass ich ihr nicht zugehört hatte.
Trotz allem freute ich mich jeden Tag aufs Neue auf die Schule. Jedes Mal, wenn ich unser mit Graffiti verunziertes
Viertel in Brooklyn hinter mir ließ und den Campus mit seinen grünen Rasenflächen und den darüber kreisenden Vögeln erreichte, fühlte ich mich, als hätte ich soeben das Paradies betreten.
Es war auch eine echte Erlösung, keine »Spaß-Aufgaben« mehr machen zu müssen, wie das Basteln von Collagen und Postern. Stattdessen bestand mein Schulalltag nun aus Tests und Referaten, die einfacher waren und kein zusätzliches Material erforderten. Hin und wieder entging mir noch ein Satz, den ein Lehrer im Unterricht sagte, aber darauf kam es jetzt nicht mehr so an. Die meisten Schulaufgaben bezogen sich auf Texte, die ich bereits zu Hause gelesen hatte. Ich verfügte also über ein gewisses Hintergrundwissen. Und wenn ich Schreibfehler machte, hatten die Lehrer eine Engelsgeduld mit mir.
Sie beurteilten meine Englischkenntnisse nur nach meinen Fortschritten und nicht im direkten Vergleich mit meinen Klassenkameraden, die alle Muttersprachler waren. Manche Lehrer korrigierten meine Schreibfehler sogar, und das war mir eine ungeheure Hilfe.
Mr Jamali war selten in der Bibliothek, wenn ich dort arbeitete, aber ich wusste, dass ich ihn entweder in seinem Büro im ersten Stock oder im Schultheater fand, wenn ich ihn brauchte. Manchmal tauchte er auch urplötzlich hinter mir auf, und als er sah, dass ich Bücher mit Titeln wie Verbessern Sie Ihr Vokabular in 90 Tagen las , schenkte er mir alte Bücher und Zeitschriften, die die Bibliothek sonst weggeworfen hätte. Dabei handelte es sich um eine bunte Mischung: Philosophie im geschichtlichen Wandel, Moll Flanders, Pflanzenwunder auf dem eigenen Fensterbrett. Ich verschlang sämtliche Bücher und stapelte sie neben der nicht funktionierenden Heizung in unserer Wohnung.
Am Ende des Schuljahres schnitt ich in den meisten Fächern ordentlich ab, mit Ausnahme von Sozialkunde. Mr Scoggins erlaubte mir daher, eine schriftliche Zusatzarbeit zu schreiben, um die vielen nicht bestandenen Tests über die aktuellen Tagesereignisse auszugleichen. Ich behielt meinen Stipendiumsplatz, und mein Talent fürs Lernen gewann langsam, aber sicher wieder die Oberhand. Mama und ich hüteten uns jedoch, Tante Paula davon zu erzählen.
Zu Beginn der achten Klasse teilte mir die Schule mit, dass ich keine Englischnachhilfe mehr benötigte. Ich würde es zwar vermissen, jemanden wie Kerry zu haben, den ich in allen Lebenslagen um Rat fragen konnte, betrachtete die Entscheidung jedoch als das, was sie war: ein Kompliment. Mein Englisch hatte sich deutlich verbessert. Was soziale Bereiche anging, lebte ich allerdings immer
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