Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
fiel Sheryls Blick auf mich. »Alle bis auf eine«, sagte sie trocken.
Ich zog den Kopf ein und ging weiter, aber ich spürte die Blicke der anderen auf mir.
Am Tag des Tests wurden unsere Tische auseinandergerückt. Dieses Mal saß ich hinter Tammy, und Curt saß in der Reihe neben mir. Unsere Lehrerin, Mrs Reynolds, ging im Klassenzimmer herum und teilte die Tests aus.
Plötzlich drehte sich Tammy um und sprach mich an: »Hast du einen zweiten Bleistift? Meiner ist gerade abgebrochen.«
Ich nickte und zeigte auf den Bleistift, den ich gerade auf den Tisch gelegt hatte.
Als sie die Hand danach ausstreckte, flatterte ein kleiner gelber Zettel aus ihrem Ärmel auf den Boden. Ich beugte mich automatisch nach unten und hob ihn auf, aber als ich mich wieder aufrichtete, hatte sich Tammy bereits umgedreht. Ob das eine Nachricht für mich war? Ich selbst wäre nie auf die Idee gekommen, während des Unterrichts Zettel weiterzugeben, aber ich hatte die anderen schon oft dabei beobachtet und gesehen, wie sie sich vor unterdrücktem Lachen schüttelten. Geschmeichelt und neugierig wollte ich den Zettel öffnen, als plötzlich Mrs Reynolds hinter mich trat und ihn mir aus der Hand nahm.
Entsetzt sah ich zu, wie sie ihn auseinanderfaltete. Bestimmt stand irgendetwas Privates drin. Mrs Reynolds musterte
den Zettel eingehend durch ihre runde braune Brille. »Das hätte ich nicht von dir gedacht, Kimberly.«
Tammy starrte unterdessen geradeaus, als hätte sie nicht das Geringste damit zu tun. Mrs Reynolds kniff die Lippen zu einem dünnen Strich der Missbilligung zusammen. Sie hielt mir den Zettel hin, damit ich ihn lesen konnte. Auch wenn ich die krakelige Schrift kaum entziffern konnte, erkannte ich auf den ersten Blick, dass der Zettel mit den Newton’schen Gesetzen und Formeln für Geschwindigkeit, Tempo und andere physikalische Größen beschrieben war.
Sofort war mir klar, was das bedeutete. Mein Gesicht brannte. Ich hätte nie gemogelt, auch nicht in Fächern, in denen ich Schwierigkeiten hatte. So hatte mich Mama nicht erzogen. Wie wenig mich die Leute an der Harrison School kannten, dass sie mir so etwas zutrauten! Tammy drehte sich hinter Mrs Reynolds Rücken zu mir um und flehte mich wortlos an, sie nicht zu verraten.
»Der gehört mir nicht«, stammelte ich.
»Komm bitte mit.« Mrs Reynolds bat ihre Assistentin, die Aufsicht zu übernehmen, und verließ den Raum. Ich folgte ihr und spürte die Blicke der gesamten Klasse auf mir. Auf dem Weg zu Dr. Copeland, der Leiterin der mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung, wurde mir ganz schlecht.
Dr. Copeland blickte auf, als Mrs Reynolds an die offene Tür klopfte. Sie war dünn, regelrecht ausgemergelt, und in ihr Gesicht hatten sich tiefe Narben gegraben, so als hätte sie vor langer Zeit einen schweren Unfall gehabt. Mrs Reynolds schloss die Tür hinter uns und erklärte, was passiert war. Sie übergab das belastende Stück Papier. Ich presste die zitternden Hände aneinander.
»Betrug hat bei uns schwerwiegende Konsequenzen«, sagte Dr. Copeland mit trügerisch sanfter Stimme. Ihre Augen
funkelten mich an. »Dafür wurden schon Schüler der Schule verwiesen.«
»Ich habe nicht betrogen«, sagte ich mit vor Angst bebender Stimme.
»Mrs Reynolds hat das hier in deiner Hand gefunden.«
»Ich nur aufgehoben.«
Ihr Gesicht war vor Anspannung ganz weiß. »Ich würde dir ja gerne glauben, Kimberly, zumal du eine so gute Schülerin bist, aber wenn der Zettel nicht von dir ist, warum hast du ihn dann aufgehoben? Es lässt sich doch nicht bestreiten, dass ein Spickzettel für den heutigen Test in deinem Besitz gefunden wurde.«
Ich dachte an Tammys verzweifelten Gesichtsausdruck und schwieg. Mein Gesicht und mein Hals glühten vor Scham und Wut, hauptsächlich auf mich selbst. Wie hatte ich mich nur in diese missliche Lage bringen können? Was passierte jetzt mit mir?
Nachdem sie vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, sprach Dr. Copeland weiter: »Ob du den Zettel selbst geschrieben hast oder ihn jemand anders für dich angefertigt hat, ist nebensächlich.«
Meine Panik war jetzt so groß, dass ich kaum noch Luft bekam. Ich wusste, dass mich meine Unschuld nicht davor bewahren würde, von der Schule zu fliegen. Warum konnte ich nicht einfach den Mund aufmachen und die Wahrheit sagen? In mir herrschte ein solches Gefühlschaos, dass ich wie gelähmt war. Ich stand immer noch unter Schock wegen des Vorwurfs an sich und war zutiefst erschüttert
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