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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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wusste sie, dass ich sie nicht verraten hatte. Ich starrte auf ihre Hand auf meinem Blazerärmel und war zwischen Wut, Verwirrung und dem Wunsch, den ganzen Vorfall zu vergessen, hin- und hergerissen. Sie sagte kein Wort und verschwand dann wieder.
    Am nächsten Tag fand ich eine Karte, die sie in mein Schließfach geschoben hatte. Darauf stand: »Es tut mir so leid! Vielen, vielen Dank!!!!« Ich hoffte schon lange, dass sich eine Freundschaft zwischen mir und Tammy entwickeln würde, und überlegte, ob wir uns einander von jetzt an näher fühlen würden. Würden wir jetzt Freundinnen werden? Nach der Sache mit der Karte ging sie mir dann aber aus dem Weg.
    Bis zur Physikstunde am nächsten Tag konnte ich weder essen noch schlafen und traute mich auch nicht, Mama oder Annette von meinem Missgeschick zu erzählen. Ich hatte ein ungutes Gefühl und war mir nicht sicher, ob ich richtig reagiert
hatte. Am allerwütendsten war ich auf mich selbst. Ich schämte mich, dass ich geglaubt hatte, Tammy würde mir eine Nachricht schicken. Würde mich Dr. Copeland noch einmal in ihr Büro zitieren, oder würde man mir einfach einen Brief nach Hause schicken und mir mitteilen, dass ich der Schule verwiesen wurde?
    Endlich kam die Physikstunde, und Mrs Reynolds gab mit ernstem Gesicht die Tests zurück, die sie schneller korrigiert hatte als sonst. Sie warf Tammy einen strengen Blick zu. Mrs Reynolds wusste genauso gut wie ich, wer vor mir gesessen hatte. Ich reckte den Hals und sah, dass Tammy nicht bestanden hatte. Sie tat mir zwar leid, aber ich fühlte mich auch bestätigt.
    Dann legte Mrs Reynolds meinen Test vor mir auf den Tisch. Ich hatte sechsundneunzig Punkte. Sie beugte sich zu mir herunter und flüsterte: »Im Zweifel für den Angeklagten.«
    Dann legte sie mir die Hand auf die Schulter und lächelte. Zumindest sie war also von meiner Unschuld überzeugt. Ich schaute mich verstohlen um und stellte fest, dass uns ein Großteil der Klasse beobachtete. Der Knoten in meinem Magen begann sich aufzulösen.
    Ich konnte nur hoffen, dass sich auch Dr. Copelands Zweifel zerstreut hatten.
     
    Als ich in der achten Klasse war, bekamen wir auch endlich ein Telefon. Ich weiß, dass Mama die monatlichen Kosten schmerzten, aber ich ertrug es nicht länger, die einzige Leerstelle in der zusammengehefteten Telefonliste zu sein, die jedes Schuljahr an die Schüler verteilt wurde. Es war ein öffentliches Eingeständnis unserer Armut und kam der Wahrheit darüber, wie wir wirklich lebten, näher, als mir lieb war. Das Argument, dass ich mit Mitschülern über die Hausaufgaben
sprechen musste, überzeugte Mama endlich, einem Telefon zuzustimmen.
    Die meisten anderen Dinge änderten sich nicht, sondern wurden einfach zur Routine. Ich wuchs in die Lücke hinein, die Mamas Fremdheit hinterließ. Ihr Englisch war immer noch nicht besser geworden, deshalb übernahm ich alle Aufgaben, die eine Interaktion mit der Welt außerhalb Chinatowns erforderten. Jedes Jahr brütete ich über der Steuererklärung, für die ich die vorgefertigten Formulare benutzte, die wir von der Fabrik bekamen. Immer wieder las ich das Kleingedruckte und hoffte inständig, dass ich alles richtig machte. Wenn Mama etwas kaufen, reklamieren oder zurückgeben wollte, musste ich das für sie erledigen. Am schwersten fiel es mir, wenn Mama wie in Hongkong feilschte und ich für sie übersetzen musste.
    »Sag ihm, wir bezahlen nur zwei Dollar«, sagte Mama beispielsweise im amerikanischen Fischgeschäft in der Nähe unserer Wohnung.
    »Mama, das geht hier nicht!«
    »Sag es einfach!«
    Ich lächelte dem Fischhändler entschuldigend zu. Ich war erst dreizehn. »Zwei Dollar?«
    Er fand das gar nicht lustig. »Zwei Dollar und fünfzig Cent.«
    Hinterher tadelte mich Mama und behauptete, ich hätte nicht die richtige Einstellung. Sie war sich sicher, dass wir einen Preisnachlass bekommen hätten, wenn ich entschiedener aufgetreten wäre.
    In der Schule blieb ich nach wie vor für mich. Mitten im Winter erschienen meine Mitschüler mit gebräunten Wangen und weißen Skibrillenabdrücken um die Augen und schwärmten von Orten wie Snowbird in Utah und Val d’Isère in Frankreich. Alle waren verrückt nach einer bestimmten Skijacke,
die eng und kurz geschnitten war und einen Stehkragen hatte. Bald trug fast die ganze Klasse eine solche Jacke. Ich bekam mit, dass sie mindestens zwanzigtausend Röcke kostete.
    Immer mehr Mädchen fingen an, geschminkt in die Schule zu kommen oder ihr

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