Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Wechselgeld, das ich von unserem Lebensmittelbudget abgezweigt hatte und in Röcken hätte zurückzahlen müssen.
Wir waren früh dran, und der halbleere Kinosaal kam mir riesig und höhlenartig vor. Die Lampen waren in den Boden eingelassen, wie im Flugzeug von Hongkong nach New York. Ich sog den Duft von Popcorn und Butter ein, bevor mich Annette in die Damentoilette schleifte, wo sie grinsend ein rosa Plastikschminkköfferchen aus der Tasche zog. Es sah nagelneu aus. Sie ging eine Reihe kleiner Döschen mit Puder in
verschiedenen Farben durch und erklärte, der Koffer sei ein Geschenk ihrer Cousine gewesen.
»Du hast tolle Wangenknochen«, schwärmte Annette und trug kichernd Rouge auf meine Wangen auf.
»Du auch.« Ich hatte keine Ahnung, wann ein Wangenknochen »toll« war, aber das schien auch nicht wichtig zu sein.
Als wir fertig waren, starrte ich in den Spiegel, überrascht, wie anders ich aussah. Stark umrandete Augen, tonnenweise Rouge und Lippenstift: Kaum ein Zentimeter meiner Haut besaß noch seine ursprüngliche Farbe. Es war bestimmt sehr amerikanisch, die ganze Zeit so auszusehen. Vorsichtig berührte ich meine tollen Wangenknochen mit den Fingern.
Eine Frau, die gerade die Toilette verließ, lächelte uns an. »Ihr seht hübsch aus, Mädels.«
Wir fühlten uns wunderschön. Dann saßen wir zwei Stunden im Dunkeln und schauten den Film, von dem ich allerdings nicht viel mitbekam. Immer wieder strich ich mit der Hand über den Samtbezug meines Sitzes und stellte mir vor, wie die Schminke auf meinem Gesicht schimmerte. Indiana Jones wirkte auf mich sehr heldenhaft. Der Film ähnelte den Kampfsportfilmen, die ich in Hongkong im Fernsehen gesehen hatte, nur dass er nicht so leicht zu verstehen war, weil zu viele Bösewichte und Stammesangehörige und Kinder darin vorkamen, die gerettet werden mussten. Aber es war trotzdem sehr aufregend. Als der Film vorbei war, gingen Annette und ich zurück in die Damentoilette, um uns die Gesichter zu schrubben. Annette durfte nämlich auch kein Make-up tragen. Mir war das nur recht, denn jetzt teilten wir ein Geheimnis miteinander, ein schönes Geheimnis.
In den Sommerferien fuhr Annette in ein Ferienlager im Norden New Yorks, während ich wieder Vollzeit in der Fabrik arbeitete.
Ich musste Mama, so gut ich konnte, entlasten. Jedes zusätzliche Kleidungsstück, das ich bearbeitete, bedeutete mehr Einkommen. In jenem Sommer lernte ich, nach welchem Muster sich ein BH mit Schweiß vollsaugt: Zuerst wurde das Band unter meiner Brust nass, und von dort aus kroch der Schweiß langsam nach oben. Unter den Armen und in der Rückenmitte kam er schneller voran, bevor er auch zwischen den Brüsten aufstieg und die Körbchen durchnässte und schließlich die Träger. Der gesamte Prozess vollzog sich innerhalb einer halben Stunde Arbeit.
Meine Spezialität bei der Endbearbeitung war das Verpacken. Es war die körperlich anspruchsvollste Arbeit, aber ich fand rasch heraus, wie es am schnellsten ging. Das Verpacken erfolgte an einem hohen schwarzen Metallgestell, über dem eine riesige Rolle Plastik-Kleidertüten angebracht war. Man nahm sich ein Kleidungsstück von rechts, hängte es an den Haken im Gestell, öffnete die Plastiktüte und zog sie über das Kleidungsstück. Dann musste man die Tüte von der Rolle lösen und schließlich das Kleidungsstück mitsamt Tüte über das Gestell heben und auf einen Ständer zur Linken hängen. Dabei war es wichtig, die Tüte nicht zu zerreißen, denn sonst musste man noch einmal von vorne anfangen.
Die Endbearbeitung begann mit dem Eintreffen der Kleidungsstücke und endete mit dem Verpacken; sie beinhaltete das Aufhängen, Sortieren, das Auffädeln von Gürteln oder Schärpen, das Zuknöpfen, Auszeichnen und Verpacken. Für den gesamten Arbeitsprozess bekamen wir eineinhalb Cent pro Rock, zwei Cent pro Hose mit Gürtel und ein Cent pro Oberteil. Ich war immer noch zu klein für das Gestell und musste deshalb auf einem Stuhl stehen. Anhand der großen Fabrikuhr an der gegenüberliegenden Wand stoppte ich die Zeit, die ich zum Verpacken brauchte. Mama brauchte etwa
dreißig Sekunden, um ein Kleidungsstück einzutüten, was auf ungefähr hundertzwanzig Kleidungsstücke pro Stunde herauslief. Es ließ sich leicht ausrechnen, dass Mama deutlich weniger als zwei Dollar pro Stunde verdiente.
Davon konnte man natürlich nicht überleben. Als ich anfangs noch auf die langsame Art verpackte und jede Tüte mit beiden Händen öffnete
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