Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
mittelmäßig, aber ich bin da ein paar
Mal mit der Schulordnung in Konflikt geraten. Erinnerst du dich an den Feueralarm direkt vor den Weihnachtsferien?«
»Warst du das etwa?« Der Alarm hatte einen riesigen Aufruhr verursacht: evakuierte Gebäude, Löschfahrzeuge und Streifenwagen auf dem Schulgelände, ausgefallene Unterrichtsstunden, Schüler und Lehrer, die stundenlang draußen in der Kälte zitterten.
»Ja. Die wollten mich eigentlich sofort rausschmeißen, aber meine Eltern haben sich schwer ins Zeug gelegt. Ich musste einen Entschuldigungsbrief schreiben und schwören, einen Notendurchschnitt von B minus beizubehalten und von jetzt an ein braver Junge zu sein. Das versuche ich auch, aber durch den Unfall steckt jetzt wieder mein Hals in der Schlinge.«
Ich stellte ihm die Frage, die mir schon von Anfang an im Kopf herumging: »Warum ich? Jeder wäre gerne bereit, dir zu helfen.«
»Komm schon, Kimberly, niemand ist schlauer als du. Ich brauche wirklich dringend Hilfe. Meine Alten haben schon gedroht, mich ins Internat zu stecken.«
Ich willigte ein, ihm meine Notizen für die gemeinsamen Unterrichtsfächer zu überlassen und sie jeden Tag seinem kleinen Bruder mitzugeben. Der kopierte sie, und ich bekam sie am nächsten Tag zurück. Ich beobachtete, dass auch andere Schüler seinem Bruder Notizen gaben, vermutlich für Mathe und die naturwissenschaftlichen Fächer. Ab und zu rief mich Curt an, wenn er Fragen zu einem Thema hatte. Ich weiß nicht, ob er je versuchte, mich früher anzurufen. Seine Anrufe kamen immer spät am Abend, so als hätte er schon darauf gewartet, dass ich nach Hause kam. Er fragte nie, was ich den ganzen Tag gemacht hatte, und das wusste ich zu schätzen. In Mathe und Naturwissenschaften war ich ihm zwar zwei Jahre voraus, aber ich erinnerte mich noch an
den Stoff und erklärte ihm die Themen, die seine Lehrer gerade durchnahmen.
Er hätte problemlos für sich behalten können, dass ich ihm half, aber das tat er nicht. Als er endlich auf Krücken zurück in die Schule gehumpelt kam, stürmten alle auf ihn zu, um auf seinem Gips zu unterschreiben, aber er bewahrte die zentralste Stelle für mich auf. Sooft er konnte, setzte er sich in aller Öffentlichkeit neben mich und nahm mich dadurch sozusagen in den geheiligten Kreis seiner Freunde auf. Ich weiß nicht, ob er das tat, weil er gut erzogen war oder weil er mich aufrichtig schätzte. Jedenfalls hatte es zur Folge, dass mich die beliebte Clique akzeptierte – was aber nicht unbedingt hieß, dass sie mich auch mochte. Ich besaß nun eine neue Art von Macht, die in den anderen Mädchen den Wunsch weckte, mit mir gesehen zu werden, auch wenn sie in meiner Gegenwart argwöhnisch und distanziert waren. Ganz anders als Annette, die mein plötzlicher gesellschaftlicher Aufstieg zu amüsieren schien. Sie blieb meine einzige echte Freundin.
Mit meiner Pseudo-Beliebtheit ging auch einher, dass mich die Jungen an unserer Schule zum ersten Mal richtig wahrnahmen. Nicht alle natürlich. Für viele war ich weiterhin Luft, aber es gab jetzt auch tatsächlich ständig eine Handvoll Verehrer, die meine Nähe suchten. Mit ihnen fühlte ich mich seltsam entspannt. Jetzt, wo Matt als Zielobjekt meines romantischen Interesses ausgeschieden war, hatte ich das Gefühl, dass er der einzige Grund für meine Schüchternheit gewesen war. Mit anderen Jungen fühlte ich mich wie befreit.
Die beliebten Mädchen der Schule sahen auf meine billigen Musterteile aus der Fabrik herab, und ich wusste, dass
jede Herzlichkeit, die sie mir entgegenbrachten, geheuchelt war, aber jedes Wochenende, wenn wir aus der Fabrik nach Hause kamen, klingelte das Telefon, und immer war ein Junge dran. Dann lehnte ich an der vergilbten Wand und wickelte mir das lange, verknotete Kabel um die Finger, während wir miteinander sprachen – zwirbel, zwirbel, zwirbel –, und wenn ich dann endlich meine Finger aus dem Kabel befreite und den Hörer auflegte, klingelte das Telefon erneut, und es war wieder ein Junge in der Leitung. Das brachte Mama auf die Palme, besonders wenn es schon spät am Abend war. Es war schlimm genug, dass ich überhaupt mit einem Jungen telefonierte, aber dass ich es im Dunkeln tat, war für sie völlig inakzeptabel.
Mamas Standardsatz, wenn sie ans Telefon ging, wurde »Kimberly nicht zu Hause«, bevor sie den Hörer auflegte. Wenn ich telefonierte, schlich sie um mich herum und rief laut »Essenszeit! Essenszeit«, was so ziemlich das einzige
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