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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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andere Wort war, das sie auf Englisch gelernt hatte. Besonders nervös machte sie die Tatsache, dass sie nicht verstand, worüber wir uns unterhielten. Ihre Sorge war unbegründet: Bei den Anrufen ging es ausschließlich um belanglose Themen wie Hausaufgaben, Motorräder und gemeine Lehrer.
    Ich fand mich selbst überhaupt nicht hübsch. Mit der Zeit war ich zu schlaksig und mager geworden für den chinesischen Geschmack, und die Feinheiten der Mode und des Schminkens blieben mir trotz Annettes Bemühungen weiterhin verborgen. Ich war nicht schön, ich war nicht witzig, und ich war auch kein guter Kumpel oder eine besonders gute Zuhörerin. Ich hatte keine der Eigenschaften, die Mädchen angeblich haben müssen, damit ein Junge auf sie steht. Meist ließ ich die Telefonate mit geschlossenen Augen über mich ergehen und lauschte dem monotonen Hintergrundrauschen
in der Leitung. Ich wusste, was diese Jungen wirklich wollten: Freiheit. Sie wollten frei sein von ihren Eltern, von ihrem eigenen, langweiligen Ich, von der Last der Erwartungen, die man in sie steckte. Das wusste ich so genau, weil ich mir genau dasselbe wünschte. Jungen waren nicht meine Feinde, sie waren Komplizen auf der Flucht. Mein Geheimnis bestand darin, sie so zu akzeptieren, wie sie waren.
    In der Schule verbrachte ich die Freistunden damit, Händchen haltend mit Jungen spazieren zu gehen. Wir gingen spazieren und knutschten. Genau davor hatte mich Mama gewarnt, was die ganze Sache natürlich umso spannender machte. Ich war in so vielen anderen Bereichen gezwungen, Verantwortung zu übernehmen, dass ich froh war, wenigstens über meinen Körper frei verfügen zu können. Besonders weit ging ich dabei nicht – in fünfzig Minuten auf dem Schulgelände sind die Möglichkeiten begrenzt –, aber meinen Begleitern schien das nicht viel auszumachen.
    »Ich weiß nicht, wie du so gleichgültig bleiben kannst«, sagte Annette. »Verliebst du dich denn nie?«
    Ich machte mir tatsächlich nicht so viele Gedanken über diese Jungen wie andere Mädchen. Ob mich ein bestimmter Junge nun anrief oder nicht, ob ich zu einem Tanzabend oder einer Party oder ins Kino eingeladen wurde, interessierte mich nicht besonders. Obwohl ich selbst seit neuestem zur beliebten Clique gehörte, war es mir vollkommen egal, ob ein Junge beliebt war oder nicht. Auch sportlich musste er nicht sein. Natürlich hatte ich eine gewisse Vorliebe für intelligente Jungen, manchmal auch für gut aussehende, aber man konnte mich genauso mit einem schüchternen Lächeln oder sogar mit besonders schön geformten Händen herumkriegen. Die Jungen an der Harrison waren nur ein Traum für mich: charmant und köstlich, aber von kurzer Dauer. Die
bittere Realität bestand aus dem ohrenbetäubenden Dröhnen der Nähmaschinen in der Fabrik, dem heftigen Schmerz der Kälte auf meiner Haut in unserer ungeheizten Wohnung. Und aus Matt. Trotz Vivian war auch Matt immer noch Teil meiner Realität.
     
    Curt ging zwar inzwischen wieder zur Schule, aber wir trafen uns trotzdem einmal die Woche, damit ich ihm in den Fächern, die ihm gerade Schwierigkeiten machten, unter die Arme greifen konnte. Normalerweise ging es um Mathe, ein Fach, in dem er wirklich miserabel war. Die Harrison rechnete diese Stunden als Arbeitszeit auf mein Stipendium an, so dass ich die Nachhilfe anfangs ganz gerne machte. Sobald Curt aber nicht mehr unmittelbar Gefahr lief, von der Schule zu fliegen, nahm er seine alten Gewohnheiten wieder auf. Manchmal erschien er mit einem Joint in der Hand zu unseren Sitzungen. Ob bekifft oder nicht, er ließ keine Gelegenheit aus, mit mir zu flirten. Ich nahm ihn nicht weiter ernst, denn er legte genau das gleiche Verhalten auch bei anderen Mädchen an den Tag. Mir war klar, dass er nur übte.
    Die meisten Mädchen der Schule gerieten regelrecht in Ekstase über seine Augen, die von einem ungewöhnlich dunklen Blau waren mit einem Hauch Weiß dahinter. Mir waren sie viel zu leer, um faszinierend zu wirken. Er interessierte sich nicht im Geringsten für Mathe oder seine anderen Unterrichtsfächer und war kaum je vorbereitet, wenn wir uns trafen. Das brachte mich zur Weißglut. Manchmal kam er sogar zu spät oder tauchte überhaupt nicht auf. Mit der Zeit lernte ich, dass er einfach die Zeit vergaß, wenn er an einer Skulptur arbeitete. Curt hatte ein Eckchen der geräumigen Schulwerkstatt in Beschlag genommen und schnitzte dort endlos an seinen Holzstücken herum.
    »Warum machst du dir

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