Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
kreativ und frei. Irgendwann im letzten Schuljahr hatte er aufgehört, schicke Designerklamotten zu tragen, und lief jetzt in abgetragenen Baumwollhosen und alten T-Shirts unter seinem blauen Schulblazer herum. Aber kurz darauf fand sie
ihn schon wieder langweilig, weil sich zu viele andere Mädchen für ihn interessierten. Der ganze Prozess spielte sich natürlich ohne jede echte Interaktion mit Curt ab. Für Annette war eine Schwärmerei eher ein Hobby als ein Gefühl, und am liebsten war es ihr, wenn ich so tat, als würde ich denselben Jungen gut finden. Dann konnten wir zusammen über ihn reden, ungefähr so, wie andere Kinder ihre Leidenschaft für Baseball miteinander teilten.
Mir machte das nichts aus. Ich genoss es, im Gespräch mit Annette so zu tun, als hätte ich ein ganz normales Leben. Dadurch konnte ich zumindest in meiner Fantasie ein wohlhabenderes und angenehmeres Leben führen, ein echter Luxus. Dadurch, dass es so wenig Aussicht auf Veränderung gab, fiel es mir umso schwerer, jemandem von unseren tatsächlichen Lebensumständen zu erzählen. Wir hatten längst jede Hoffnung aufgegeben, dass Tante Paula etwas unternahm, um unsere Situation zu verbessern. Da wir immer noch unsere Schulden bei ihr abbezahlten, blieb uns nur wenig Geld zum Leben. Wir konnten uns kaum die Dinge leisten, die ich wirklich brauchte, wie etwa neue Schuhe, wenn ich aus meinen alten herausgewachsen war. Unsere einzige Hoffnung bestand darin, dass unser Gebäude irgendwann wirklich abgerissen wurde und sie gezwungen war, uns dort herauszuholen.
In meinem anderen Leben, dem Leben in der Fabrik, war Matts Anwesenheit wie ein Rausch für mich, ich spürte es, wann immer er an der Bügelmaschine arbeitete oder eine Pause machte. Er schien in einem Glorienschein aus Licht herumzulaufen. Es war, als hätte sich jedes Detail seines Gesichts, seiner Hände, seiner Kleidung auf schmerzhafte Weise in mich eingebrannt.
Einmal beging ich den Fehler, ihm zu sagen: »Deine Hose sieht anders aus.«
»Was meinst du?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, irgendwie sitzt sie anders.« Ich kam ins Stocken, als ich merkte, dass ich mich auf gefährliches Terrain begab.
Er sah mich ganz komisch an und sagte dann: »Also gut, wenn du es unbedingt wissen willst: Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich heute keine Unterwäsche trage.«
Ich lachte unbeholfen, so als habe er einen Witz gemacht und als sei ich die Sorte Mädchen, die über so etwas zwanglos lachen konnte. Insgeheim war ich längst eine Expertin, was Matts Hintern anging, und daher sicher, dass er die Wahrheit sagte. Ich traute mich nie, ihn nach dem Grund für seine fehlende Unterwäsche zu fragen, aber vermutlich waren ihm einfach die sauberen Unterhosen ausgegangen.
Wenn Park, Matt und ich freie Zeit zur Verfügung hatten, was selten genug vorkam, genossen wir ein paar kostbare Momente im Freien. Einmal kam ich nach unten, als Park gerade die Kette an Matts Lieferfahrrad reparierte, während Matt daneben stand und zusah.
Er zuckte mit den Schultern. »Was soll ich sagen, ich habe glitschige Hände.« Ungeschickte Hände, meinte er wohl. Er beeilte sich hinzuzufügen: »Aber der Rest meines Körpers verfügt über geradezu himmlische Fähigkeiten.«
Matts halbernst gemeinte Flirtversuche machten mich einerseits ganz verrückt vor Freude, sorgten aber andererseits auch dafür, dass ich in seiner Gegenwart noch nervöser wurde. Ich gab vor, die Bemerkung über seinen Körper nicht gehört zu haben, und beugte mich neben Park übers Fahrrad. Park besaß sehr geschickte Hände und hatte die Kette in kürzester Zeit wieder eingelegt und festgezogen.
»Bringst du mir das irgendwann bei?«, fragte ich Park.
Wie gewöhnlich wich Park meinem Blick aus, aber er nickte. Ich lächelte und gab ihm einen Klaps auf den Arm.
»Wenn ihr zwei Mechaniker fertig seid«, unterbrach uns Matt, »kann ich dann bitte mein Fahrrad wiederhaben, bevor die Pizzeria pleite geht? Italiener haben es in Chinatown schon schwer genug.«
Mit Park hatte ich in vielerlei Hinsicht ein unkomplizierteres Verhältnis als mit Matt. Auf den ersten Blick waren Matt und ich Freunde, und ich lebte für die Momente, in denen wir miteinander reden oder lachen konnten, wie kurz sie auch sein mochten. Meine Gefühle für ihn waren aber so stark, dass ich seine Anwesenheit automatisch mit stockenden Atemzügen assoziierte. Ich achtete peinlich genau darauf, einen gewissen Abstand zu ihm einzuhalten, so als sei er etwas
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