Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
anderen versteckte ich meine Noten immer sofort und sprach nicht darüber.
Annette war meine Informationsquelle. Eines Abends erzählte sie mir am Telefon: »Du glaubst nicht, was die über dich erzählen! Ich hab doch tatsächlich gehört, wie Julia Williams zu einem anderen Mädchen gesagt hat, dass du nie schläfst und nie lernst.«
Es stimmte, dass ich nicht viel Schlaf abbekam, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, woher Julia Williams, ein Mädchen mit kleinen blonden Ringellöckchen, das wissen wollte. Tagsüber hatte ich nur während der kurzen Fabrikpausen und in der U-Bahn Gelegenheit, mit den Hausaufgaben anzufangen. Nach Hause kamen wir normalerweise erst nach neun, und wenn ich dann endlich meine Hausaufgaben fertig hatte, war ich meist so erschöpft, dass ich nur noch auf die Matratze sank und sofort einschlief.
In der Telefonleitung war nur ein leises Knistern zu hören. »Mich würde übrigens auch mal interessieren, wie du das machst.«
»Wie ich was mache?«
»Na, wie du so gut sein kannst in der Schule. Zum Beispiel im letzten Geschichtstest – ich weiß, dass du kaum dafür gelernt hast. Ich meine, am Tag davor hattest du die
betreffenden Kapitel im Geschichtsbuch noch nicht mal gelesen.«
Ich starrte auf meine Hände. »Ich weiß auch nicht. Es ist, als wäre ich mit einem zusätzlichen Kopf geboren worden oder so etwas in der Art.«
Ich selbst fand meine schulischen Leistungen gar nicht mehr so bemerkenswert, jetzt, wo ich einigermaßen fließend Englisch sprach. Ich erledigte die Aufgaben, einfach so gut ich konnte, und spuckte während der Tests aus, was ich gelernt hatte. Manchmal blieb mir nichts anderes übrig, als mich erst im allerletzten Moment darauf vorzubereiten, aber irgendwie schaffte ich es immer. Die Schule war mein einziges Ticket aus diesem Leben heraus, und dafür reichte es nun mal nicht, auf eine Privatschule für privilegierte Kinder zu gehen. Um später eine gute Arbeit zu finden, musste ich mir zusätzlich ein Vollstipendium an einem prestigeträchtigen College erarbeiten und dort außergewöhnlich gut abschneiden.
Deshalb schrieb ich mich bereits in der zehnten Klasse für College-Vorbereitungskurse ein, die eigentlich erst für Elft-und Zwölftklässler gedacht sind. Am Ende des Schuljahrs erhielt ich in allen Prüfungen die Höchstnote 5, woraufhin mir die anderen Harrison-Schüler mit einer Mischung aus Respekt und Neid begegneten. Das, wonach ich mich sehnte, nämlich Freundschaft, blieb mir nach wie vor verwehrt. Trotz Annette fühlte ich mich einsam. Ich wollte am Leben der anderen teilhaben, aber ich wusste nicht wie.
Inzwischen hatte ich reine Haut, und Mama erlaubte mir endlich, die Haare wachsen zu lassen. Ich hatte exakt Größe 36 und konnte mir Musterteile aus der Fabrik aussuchen, so dass ich nicht mehr ganz so unangemessen gekleidet war. Leider ließen meine Verpflichtungen Mama und der Fabrik
gegenüber mir keinen Raum für gesellschaftliche Ambitionen. Und selbst wenn ich Zeit gehabt hätte: Meinen Mitschülern war ich sowieso viel zu ernsthaft – und vielleicht hatten sie sogar recht damit. Ich ging nie auf Partys oder Tanzveranstaltungen, und wenn ich doch einmal irgendwo eingeladen war, was selten genug vorkam, schob ich eine Ausrede vor – ohne mir erst die Mühe zu machen, Mama um Erlaubnis zu bitten. Zu den anderen Mädchen hielt ich bewusst Distanz, weil eine Freundschaft mit ihnen unweigerlich eine Einladung zu ihnen nach Hause zur Folge gehabt hätte, und die konnte ich sowieso nicht annehmen. Ich schlich mich ja bereits hin und wieder davon, um mich mit Annette zu treffen; für eine weitere Freundin war einfach kein Platz.
Wenigstens hatte ich Annette. Sie verstand und akzeptierte es, wenn ich etwas nicht mitmachen konnte, auch wenn sie von meinen wahren Lebensumständen in vollem Ausmaß immer noch keine Ahnung hatte. Wenn ich in der Bibliothek arbeitete, kam sie mich oft besuchen, und sie war eine große Bewunderin von Mr Jamali. Wenn wir allein waren, lag sie mir ständig damit in den Ohren, wie unglaublich klug und großartig er doch sei. Annettes Interessen und Vorlieben waren immer sehr leidenschaftlich, wohingegen ihre Schwärmereien für Jungen kurzlebig waren und keine nachhaltigen Auswirkungen auf ihr Herz hatten. Sogar für Curt, der sich im Laufe des Sommers von Sheryl getrennt hatte, interessierte sie sich kurzzeitig. Etwa zwei Wochen lang schwärmte Annette, wie künstlerisch er doch sei, wie
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