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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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überhaupt die Mühe, zur Nachhilfe zu erscheinen, Curt?«, fragte ich ihn irgendwann.
    Er zog kokett die Augenbrauen hoch. »Weißt du das wirklich nicht?«
    »Vielleicht wäre ein anderer Nachhilfelehrer besser für dich. Jemand, der strenger ist.« Ich hasste das Gefühl, meine Zeit zu vergeuden.
    Jetzt sah er beunruhigt aus. »Nein, ich mag dich. Manchmal verstehe ich das Zeug sogar, wenn du es mir erklärst.«
    »Du sollst es aber nicht manchmal verstehen, sondern immer. Du hörst nicht besonders gut zu.«
    »Doch, ich höre schon zu. Und für mich ist manchmal schon sehr gut.«
    »Du flirtest doch die ganze Zeit nur mit mir. Mir wäre es lieber, wenn du einfach nur deine Hausaufgaben machen würdest.«
    »Tut mir leid. Ist so eine blöde Angewohnheit von mir. Du hast übrigens echt tolle Beine.«
    Ich warf ihm einen bösen Blick zu, und er fügte schnell hinzu: »Huch, schon wieder. Aber ich gebe mir Mühe, ja?«
     
    Nach diesem Gespräch besserte sich Curt tatsächlich. Er kam nicht mehr bekifft zur Nachhilfe und erschien im Normalfall pünktlich. Seine Hausaufgaben vernachlässigte er immer noch, aber er gab sich wenigstens Mühe, aufmerksamer zuzuhören. Ich erkannte, dass er durchaus intelligent war; er interessierte sich nur einfach nicht für die Schule. Er war das komplette Gegenteil von mir.
    Als ich feststellte, dass er in der Werkstatt aufmerksamer war, verlegte ich so viele Nachhilfestunden wie möglich dorthin. Er stellte abstrakte Schnitzarbeiten aus einzelnen Holzstücken her, die er zusammenklebte und dann bearbeitete.
Ich ging um eins seiner Werke herum, das beinahe wie eine stilisierte Version des chinesischen Schriftzeichens für Wasser aussah, ein senkrechter Strich mit zwei Flügeln.
    »Das ist schön. Aber warum schnitzt du nie etwas aus dem echten Leben?«, fragte ich.
    Er wackelte mit den Augenbrauen. »Wenn du für mich Modell stehst, tue ich das vielleicht sogar.«
    Als er meinen verärgerten Gesichtsausdruck sah, seufzte er. »Ob du es glaubst oder nicht: Manchen Mädchen gefällt so was.« Dann wurde er ernst und kam auf meine Frage zurück: »Weil Dinge, die nicht realistisch sind, zum Gefäß für alles werden können, was man hineinfüllt. Wie ein Wort oder ein Symbol oder eine Vase. Man kann hineingießen, was immer man möchte.«
    Ich hasste den Gedanken, so viel Auswahl zu haben. »Aber das bedeutet doch, dass das Kunstwerk an sich leer ist.«
    »Darin liegt ja gerade seine Schönheit. Es muss keine bestimmte Bedeutung haben.«
    »Also ich könnte kein Leben ohne Bestimmung leben.« Er sah mich an. »Du interessierst dich nicht für oberflächliche Dinge, oder?«
    »Was zum Beispiel?«
    »Geld, Klamotten.«
    Ich musste lachen. »Doch, schon. Gezwungenermaßen.«
    »Nein, tust du nicht. Nicht wirklich. Ich habe dich beobachtet  – du nimmst gar nicht wahr, was die anderen Mädchen machen.«
    »Das denkst du nur, weil ich mich anders anziehe als sie. Aber das liegt eigentlich nur daran, dass ich nicht verstehe, was sie machen.« Es tat gut, das zugeben zu können. »Ich wünschte, ich könnte so aussehen wie sie!« Vor meinem inneren Auge erschien die entzückende Vivian. »Aber ich weiß nicht wie.«
    »Weil du dich nicht wirklich dafür interessierst. Willst du mir etwa erzählen, dass du deine Freizeit vor dem Spiegel verbringen und versuchen würdest, deine Wimpern länger aussehen zu lassen, wenn du könntest?«
    Ich schwieg.
    Er fuhr fort: »Du wärst viel zu sehr damit beschäftigt, etwas zu erfinden, das die Welt rettet.«
    »Nur weil ich besser in Mathe bin als du, bin ich nicht automatisch ein Ausbund an Tugend.«
    »Genau das meine ich.«
    »Was?«
    »Wo hast du das gelernt? Ich meine, hast du zu Hause jemanden ›Ausbund an Tugend‹ sagen hören, oder was?«
    Ich zögerte. »Das habe ich aus einem Buch.«
    »Siehst du?«
    »Benutzen sie bei dir zu Hause denn nicht solche Wörter?«
    »Doch, eigentlich schon. Ich bin der Sohn von zwei Lektoren. Meine Eltern reden die ganze Zeit so daher. Ich arme Sau.«
    »Warum dachtest du dann, dass bei mir zu Hause nicht so geredet wird?«
    »Wird bei dir so geredet?«
    Ich wandte den Blick ab. »Nein.« Um das Thema zu wechseln, lenkte ich das Gespräch wieder auf seine Skulpturen. »Aber ich frage mich wirklich, ob du auch etwas Gegenständliches schnitzen könntest. Das ist ganz schön schwer.«
    Curt antwortete nicht, aber eine Woche später hatte er eine kleine hölzerne Schwalbe geschnitzt. Ich entdeckte sie sofort neben

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